Nachdem sie die Schlucht verlassen hatten, gingen sie zur Treppe, wo Kenar, Gavin und zwei weißgekleidete Windgeister standen. Die Fessel des Zentaurs wurde gerade verbunden, während der Satyr ihnen zuwinkte. Michelle lief los, um ihn stürmisch zu umarmen.
„Gavin, du hast uns gerettet. Weißt du, wie mutig du warst?“
„Ja, das war ich wohl. Ähm, bekomme ich einen Heldenkuss?“
Ohne darüber nachzudenken, drückte sie ihm lachend einen Kuss auf die Wange. Sein Seufzer klang glückselig. Michelle erhob sich und schaute Kenar an, der den rechten Huf nicht belastete.
„Wie geht es deiner Fessel?“
„Er wird einige Wochen den Huf schonen müssen“, antwortete der Windelementar, der vor ihm kniete, bevor er sich aufrichtete. Es war eine Frau, die ihr langes, blondes Haar geflochten trug. Neben ihr bemerkte Michelle einen Eimer mit leicht rötlich verfärbten Wasser.
Kenar knirschte mit den Zähnen und sagte dann: „Geht schon mal voraus.“
Michelle öffnete den Mund, um zu sagen, dass sie alle gemeinsam gehen würden, schloss ihn jedoch wieder. Es war ihr Wunsch, ihre Gefährten an ihrer Seite zu haben, aber für den stolzen Zentauren war es demütigend, dass andere ihn die Treppe hochhumpeln sahen. Trotzdem zögerte sie. Was geschähe, wenn Kenar das Gleichgewicht verlöre?
Der weibliche Windelementar lächelte. „Gleich kommen drei Steingeborene, die mir öfters zu Hand gehen. Valon wird euch inzwischen zum Dorf geleiten.“
Drei Steingeborene würden ihn besser sichern, als ihre Gruppe es je konnte.
„Bis später, Kenar“, sagte Michelle und er nickte kurz.
Während sie die Treppe hochgingen, spürte sie Unruhe in sich aufsteigen. Nicht nur träfen sie bald im Dorf der Windgeister ein, sondern sähen auch die Stadt der Steingeborenen …
Plötzlich fragte Valon: „Was ist mit Imena geschehen?“
Sie hatte es geahnt. Dies war ihre Heimat.
„Sie ist zurückgeblieben, um Geister mit dem Amalton in ihrem Körper davon abzuhalten, uns zu verfolgen“, antwortete Tejon. „Wenn sie sich zurückverwandelt, wird sie eine Weile Gast der Regentin sein.“
„Vielleicht wird ihr das sogar gefallen.“
Die Treppe machte eine Biegung und ihnen kamen drei Steingeborene entgegen, die eine große Trage mit sich führten. Ihre Ähnlichkeit mit Imena schmerzte und Michelle hoffte, dass sie wirklich die Zeit bei Keshia genießen konnte. Die Steingeborenen neigten den Kopf zum Gruße und ihr Blick glitt suchend über sie hinweg, aber sie hielten nicht an, um nach Imena zu fragen.
Als die Stufen endeten, standen sie auf einem Gebirgsplateau, das sich an eine steile Felswand schmiegte. Ein schwarzer Stein erhob sich wie ein Obelisk in der Mitte des Dorfes aus runden, tipiähnlichen Zelten. Beim Näherkommen sah Michelle, dass ein regenbogenfarbiger Schiller über dem Schwarz lag. Bis auf einen Höhleneingang war von der Steingeborenenstadt nichts zu sehen. Scheinbar fühlten sie sich ohne Sonnenlicht wohl und brauchten keine Fenster.
Valon führte sie in das große Zelt neben dem schwarzen Felsen und bat sie, Platz zu nehmen. Erschöpft setzten sie sich auf den Boden, weil es keine Stühle gab.
„Es tut mir leid, dass wir euch nicht sofort etwas zu essen anbieten können,“ sagte er, „aber es suchen bereits Windgeister im Tal nach Nahrung.“
Einige Zeit später brachte ein Windgeist ihnen einen Korb mit Pilzen, Beeren und Nüssen. Sie griffen hungrig zu und legten sich dann schlafen.
Rötliches Licht fiel in das Zelt, als Michelle erwachte. Sie hatte tatsächlich durchgeschlafen. Als sie sich streckte, bemerkte sie, dass Kenar, Tejon und Damaris fort waren. Sie stand auf, um das Zelt zu verlassen, und sah den Zentauren, der an der Treppe auf das Tal blickte. Nach kurzem Zögern näherte sie sich ihm.
„Guten Morgen, bist du schon lange wach?“
„Mehr oder weniger.“
Sie erinnerte sich, wie heftig Kenar die Wolfszentauren als Legende abgetan hatte. Die Begegnung mit einem hatte ihn sicher erschüttert und das Schicksal der gefangenen Zentauren musste ihn beschäftigen.
„Vielleicht hat er gelogen, um dich aus dem Gleichgewicht zu bringen, und sie haben keine Zentauren gefangen genommen.“
„Der Gedanke, dass auch nur einer von uns ihr hilft, ist unerträglich.“
„Aber sie tun es nicht freiwillig! Selbst ein guter Krieger kann überwältigt werden oder er war zu jung, um sich zu wehren.“
Kenar schloss die Augen. „Jetzt, da ein Heiliger Baum tot ist, lässt Aluka unseren Kindern nachstellen. Was muss es für ein schreckliches Gefühl sein, als Mutter oder Vater das eigene Kind töten zu müssen, damit ihm das Schicksal als Alukas Sklave erspart bleibt.“
„Hast du Kinder?“, fragte sie leise.
Kenar lächelte. „Vor sieben Monden hat meine Frau mir einen Sohn geboren. Ich wünsche mir, dass er die Gelegenheit erhält, zu einem Krieger heranzuwachsen.“
„Das wird er bestimmt. Wir haben doch die schwerste Strecke des Weges zurückgelegt.“
„Umso beschämender, dass ich euch nicht weiter begleiten kann, weil ich euch nur eine Last wäre.“
Überrascht blickte sie ihn an und merkte, dass sein Gesicht wieder ernst geworden war.
„Ein Krieger, der sich etwas vormacht, stirbt und zieht andere ins Unglück. Falls ihr nun den Weg über die Berge wählt, hätte ich euch selbst gesund nur aufgehalten.“
Auch wenn sie sich in seiner Gegenwart anfangs unwohl gefühlt hatte, hatte man sich immer auf den Krieger verlassen können und sie würde ihn vermissen.
„Ich verspreche dir, dass ich mein Bestes gebe.“
Der Zentaur nickte.
„Ich danke dir, Michelle.“
Als sie ins Zelt zurückkehrte, schliefen Nick und Gavin noch und sie betrachtete lächelnd Nicks schlafendes Gesicht. Sein schwarzes Haar fiel ihm über die Augen und sie unterdrückte den Drang, es zurückzustreichen. Auch er war gestern sehr mutig gewesen.
Damaris trat ein und sie sah, dass sich neue Bänder um seine Unterarme schlangen. Sie nickten einander zu, um die anderen nicht zu wecken, und der Windgeist setzte sich. Gähnend wachte Gavin auf und schaute sich um.
„Gab es bereits Frühstück?“
„Frühstück hört sich gut an“, flüsterte Nick, ohne die Augen zu öffnen.
Damaris lachte. „Ich werde euch etwas holen. Nein, bleib sitzen, Michelle, und ruhe dich aus, solange es dir möglich ist.“
Auch wenn sie zu munter war, um noch eine Runde zu schlafen, setzte sie sich wieder. Der Windgeist kehrte mit einem vollen Korb und Tejon zurück. Neugierig betrachtete Michelle das mit einem Tuch abgedeckte Tablett, das Tejon trug. Als er es auf den Boden stellte und das Tuch wegzog, erfüllte ein köstlicher Duft die Luft. Auf dem Tablett standen drei dampfende Suppen und-
„Eier!“, rief Nick und fing sofort an, eines zu pellen.
Gavin schaute dagegen in den Korb, den Damaris getragen hatte. In diesem Moment hatte Michelle das Gefühl, sie waren wie begeisterte Kinder und Damaris und Tejon wie fürsorgliche Eltern. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Vom Alter könnte es bestimmt passen. Dann wurde sie wieder ernst.
„Was ist mit Kenar?“, fragte sie.
„Ich habe ihm schon etwas gebracht, denn er wollte nicht zu uns kommen und einen Plan hören, an dem er nicht teilnehmen kann.“ Damaris lächelte. „Wir besprechen ihn, wenn ihr gegessen habt.“
„Mir kann nichts den Appetit verderben“, sagte Nick, bevor er ins Ei biss.
„Ich möchte es auch wissen.“
„Ursprünglich wollten wir hier hinabsteigen und das Gebirge umgehen, aber die Regentin hat uns gewarnt, dass die Zeit knapp wird, außerdem hat uns Aluka vielleicht weitere Hinterhalte gestellt.“ Tejon machte eine Pause. „Ich habe die Steingeborenen gefragt, ob sie noch einen Weg kennen. Sie haben mir von einem alten Gang erzählt, der hinter ihrer Stadt beginnt. Er endet in der Nähe des Flusses und einer Schlucht, die auf die andere Seite des Gebirges führt.“
Michelle war bei dem Wort Gang erschaudert.
„Wie lange wird die Reise zum Fluss dauern?“
„Sieben Tage.“
Beinahe hätte sie aufgestöhnt und schaute etwas neidisch zu Gavin.
„Du wirst hierbleiben, oder?“
„Ja, ich habe genug von Abenteuern.“
Ich auch, dachte Michelle, aber sie konnte leider keinen Rückzieher machen.
„Wann brechen wir auf?“
Damaris und Tejon wechselten einen Blick, bevor der Windgeist antwortete: „Es ist bereits alles vorbereitet, aber wir werden uns erst heute Mittag mit unserer Führerin am Eingang zur Steingeborenenstadt treffen.“
„Hier“, sagte Nick und hielt ihr ein gepelltes Ei hin. „Stell dir vor, es ist Sonntag und du hast einen tollen Tag vor dir.“
Obwohl ihr eigentlich eher nach Weinen zumute war, lachte Michelle und bedankte sich. Nach dem Frühstück verließen alle bis auf Nick und sie das Zelt. Auf einmal schienen ihre Augen zu brennen und sie fühlte sich sehr erschöpft.
„Ich lege mich noch etwas schlafen.“
Nick wollte sie umarmen, doch sie hob abwehrend die Hand, weil sie das Gefühl hatte, die geringste freundliche Geste würde sie in Tränen ausbrechen lassen.
„In Ordnung, ich bleibe auch hier, also falls du über irgendetwas reden willst … ich bin da.“
„Danke, Nick.“
Die Augen schließend umschlang Michelle mit beiden Händen das Kissen. Wenn sie bloß schon zu Hause wären … Sie vermisste ihre Eltern mehr denn je.
Als sie aufwachte, war Nick wie versprochen an ihrer Seite.
„Wie viel Zeit haben wir noch?“
Nick lächelte.
„Genug, um einen Spaziergang durch das Dorf zu machen.“
Sie warfen sich ihre Umhänge über und traten hinaus. Vor einigen Zelten standen Webstühle und Windgeister beiderlei Geschlechts woben Stoffe aus weißen und grauen Garn. In ihren geflochtenen Weidenkörben entdeckte Michelle aber auch einzelne Ballen Schwarz und Blau.
Kenar stand noch immer an der Treppe, doch er stützte sich auf eine Krücke, so dass er das rechte Vorderbein nicht belasten musste.
„Ich fühle mich wie ein zahnloser Zentaur“, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln, als sie näherkamen.
„Dafür wirst du schneller gesund.“ Sie machte eine Pause. „Wir wollten uns von dir verabschieden.“
Er runzelte die Stirn, dann glätteten sich die Falten wieder.
„In meinem Stamm wünschen wir uns gute Jagd, aber das ist wohl unpassend. Möget ihr sicher reisen.“
„Danke, Kenar, auf Wiedersehen.“ Michelle spürte Nicks Blick, doch sie hatte nicht Lebwohl sagen wollen. Er verabschiedete sich mit einem einfachen Mach’s gut, das so unverbindlich war wie ein Schulterzucken.
Den Satyr fanden sie zu Füßen einer besonders schönen Windfrau, die summend ein Tuch wob, und sie mussten ihn drei Mal ansprechen, bevor er sie bemerkte. Michelle umarmte ihn, während sich Nick gleichgültig verabschiedete. Empfand er nicht die geringste Zuneigung für die, mit denen sie einen Monat lang gereist waren?
Im Zelt wurden sie bereits von Tejon und Damaris erwartet, die ihnen eigene Wasserschläuche und Provianttaschen reichten.
„Wartet!“, rief Gavin ins Zelt stürmend. „Ich komme mit.“
„Bist du dir sicher?“, fragte Damaris verblüfft.
„Ja, ich möchte nicht die nächsten Wochen mit Kenar hier verbringen. Kranke Zentauren sind unausstehlich und wahrscheinlich würden meine Versuche ihn aufzuheitern damit enden, dass er noch übellauniger wird.“
„Das ist vermutlich wahr.“ Damaris Mund verzog sich zu einem Lächeln.
Nachdem Gavin bereit war, gingen sie zum Höhleneingang, wo sie sich mit der Steingeborenen trafen, aber Michelle hatte nur Augen für die gähnende Dunkelheit, die sie erwartete. Erst als die Steingeborene eine Fackel entzündete, schaute sie ihr ins Gesicht. Wie Imena wirkte sie alterslos, doch ihr Gestein hatte einen eher grünlichen Schimmer.
„Folgt mir bitte“, sagte sie und Michelle schüttelte den Widerwillen, den Tunnel zu betreten ab.
Von draußen hatte die Stadt der Steingeborenen den Eindruck gemacht, als legten sie keinen Wert darauf, den Stein zu bearbeiten, aber der Boden war glatt und die Wände mit detailreichen Fresken verziert.
„Das ist der Gang der Erinnerung“, erklärte die Steingeborene.
Das Fackellicht offenbarte eine Ebene, auf der Zentauren gegen Hyänenmenschen kämpften. Über ihnen flogen Windgeister und schleuderten Blitze herab.
„Konntet ihr einst fliegen?“
Traurig lächelte Damaris.
„Ja, doch die Fähigkeit ist uns verloren gegangen.“
Die Steingeborene gab ihnen keine Zeit, um die Fresken genauer zu betrachten, aber im Vorbeigehen bewunderte Michelle sie. Eine idyllische Waldszene zeigte Nymphen, die um ein Einhorn tanzten. Jedes Gesicht war einzigartig, als hätte der Bildhauer bestimmte Nymphen verewigen wollen. Das Gleiche galt für die Angehörigen der anderen Völker. Unterbrochen wurden die Fresken nur von Tunneln, die rechts und links abzweigten und einen naturbelassenen Eindruck machten, jedoch sahen sie nur wenige Bergmenschen. Sie durchquerten den Gang der Erinnerung nur, um in einem Tunnel auf der anderen Seite zu verschwinden. Als die Fresken endeten, verabschiedete die Steingeborene sich und reichte Nick die Fackel.
In der vergangenen Woche hatten sie weder unter Hunger gelitten noch waren ihnen die Fackeln ausgegangen, trotzdem hatte Michelle manchmal das Gefühl, die Wände bewegten sich auf sie zu. Als am Ende des Tunnels ein rechteckiges Licht erschien, wirkte es wie eine verheißungsvolle Tür. Während das Sonnenlicht Michelle einige Momente blendete, hörte sie das Rauschen eines schnell fließenden Flusses und atmete tief die frische Gebirgsluft ein.
Dann gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit und sie erblickte ein langgestrecktes Tal mit einigen Kiefern und einer weiteren Baumart, die Michelle nicht bestimmen konnte. An der rechten Seite strömten die Wassermassen entlang.
„Der Fluss wäre auch ein Weg gewesen. Bin ich froh, dass wir ihn nicht nehmen müssen“, sagte Gavin.
Innerlich stimmte Michelle ihm zu. Es wäre schön, wenn der Rest ihrer Reise ohne weitere Schwierigkeiten verlief, doch als sie die Schlucht erreichten, entrang sich ihren Lippen ein Stöhnen.
Die Schlucht war voller Spinnweben und im zweiten Netz entdeckte sie nicht nur eine riesige Spinne, sondern auch noch ihre Brut, die wuselig herumkrabbelte. Sie waren so groß wie Bullterrier und so zahlreich, dass Michelle sich nicht die Mühe machte, sie zu zählen.
„Gibt es auch Himmelsspinnen?“, fragte sie leise.
„Ja.“
„Als ob wir nicht schon genug Probleme gehabt hätten.“ Gavin ließ sich auf seinen Hintern fallen. „Was machen wir nun?“
„Dieser Weg ist zu unsicher“, antwortete Damaris. „Wir sollten es mit dem Fluss versuchen.“
Tejon nickte und sie machten kehrt.
„Werden wir ein Floss bauen?“, wollte Nick wissen.
„Dafür fehlen uns die Werkzeuge. Wir werden einen der umgestürzten Baumstämme nehmen und auf ihn den Fluss hinunterreiten.“
„Wunderbar.“ Diesmal stammte die Bemerkung von Nick und Michelle spürte, wie sie schlechter Luft bekam. Hoffentlich ging diese Wildwassertour gut. Ertrinken erschien ihr fast so schlimm wie gefressen zu werden. In Damaris‘ Augen dagegen lag ein Glitzern, das Vorfreude verriet, dabei hatte sie geglaubt, Kenar wäre der Verwegene in ihrer Gruppe. Was reizte den Windgeist? Die Geschwindigkeit?
Am Ufer gab es tatsächlich einige Baumstämme, die wohl ein starker Sturm umgerissen hatte.
„Seht euch um, aber entfernt euch nicht zu weit. Wir brauchen einen Baum, der nicht morsch und möglichst kurz ist, damit wir ihn leichter mit Ästen lenken können.“
Michelle schaute auf den Fluss. Unter der Wasseroberfläche befanden sich von der Kraft des Wassers glatt geschliffene Felsen. Plötzlich stieß ein Windstoß sie zu Boden und etwas Hartes umschloss ihre Taille. Rasch entfernte sie sich von der Erde und ihre Freunde wurden immer kleiner. Sie blickte auf und sah, dass sie sich in den Krallen eines riesigen Geiers befand.
„Bleib ruhig, du bist nicht allein.“ Am anderen Fuß hing Damaris und kletterte das Band hoch. Den Geier schien es nicht zu stören, er flog schnell und hatte bereits eine Bergkette hinter sich gelassen.
Der kalte Flugwind zerrte an Michelles Haaren und sie wandte den Kopf ab, um besser atmen zu können. Als der Geier langsamer wurde, schaute sie nach vorne. Sie näherten sich einem Nest auf einem Felsvorsprung. Auf dem Rand saßen zwei fiepende Küken, die noch mit weißem Flaum bedeckt waren. Jedoch besaßen sie scharfe Schnäbel und waren bereits so groß wie Pferde. Der Altvogel ließ Michelle wenige Meter über dem Nest fallen und seine Jungen sprangen sofort auf sie zu. Damaris landete vor ihr, schlitzte den vordersten die Kehle auf und zog Michelle schnell hinter den Körper.
Obwohl sie wusste, dass der Windgeist auch mit dem anderen Küken fertig geworden wäre, hämmerte ihr Herz gegen ihren Brustkorb. Sie schaute sich nach dem Altvogel um. Er war nur noch ein brauner Fleck im Himmel. Scheinbar hatte er sie für leichte Beute gehalten, mit der seine Küken spielend fertig wurden, und war wieder auf Jagd gegangen. Das andere Junge hatte innegehalten und gab einen fragenden Piepser von sich, dann machte es sich über sein totes Geschwisterchen her.
„Nutzen wir die Gelegenheit“, flüsterte Damaris.
Sie schlichen aus dem Nest und Michelle wurde übel, als sie in den tiefen Abgrund blickte. Der Windgeist schaute nach oben.
„Entweder klettern wir aufwärts oder wir warten die Rückkehr der Mutter ab. Wenn sie schläft, steigen wir auf ihren Rücken, damit sie uns am nächsten Morgen fortträgt. Leider können wir nicht bestimmen, wo sie hinfliegt, und wir müssen abspringen, sobald sich die Gelegenheit bietet.“
Michelles Magen verkrampfte sich und Magensäure stieg ihr in den Mund. Sie schluckte sie herunter und schaute die steile Felswand hoch.
„Hilfst du mir beim Klettern?“
Damaris lächelte.
„Natürlich.“
Nachdem er sein Band um ihre Taille sicher verknotet hatte, kletterte er hinauf. Angespannt beobachtete Michelle ihn dabei. Der Windgeist schien instinktiv zu spüren, wohin er Füße und Hände setzen musste. Nur selten hielt der Stein nicht und brach ab, aber sofort fand Damaris neuen Halt. Als er einen schmalen Vorsprung erreicht hatte, winkte er ihr zu.
Bevor ihre Finger nach den ersten Erhebungen im Felsen griffen, schaute Michelle noch einmal über die Schulter und suchte den Himmel ab. Der erwachsene Geier war nicht zu sehen und sie begann ihren Aufstieg. Ihre Fingerkuppen schmerzten als Erstes, denn das Gestein war schroff und scheuerte die Haut auf. Schweratmend erreichte sie den Vorsprung, der viel zu schmal war, um sich hinzusetzen, also schmiegte sie sich an den abweisenden Stein und spürte Damaris‘ Hand in ihrem Rücken.
„Du wirst das schaffen.“
Sie nickte. Als ihr Atem sich wieder beruhigt hatte, machte sich der Windgeist auf den Weg zum nächsten Vorsprung. Sobald er ihn erreicht hatte, folgte Michelle. Die letzten Meter begannen ihre Arme zu zittern und Damaris zog sie den Rest hoch. Oben angekommen machte sie den Fehler hinabzusehen. Vollgefressen schlief das Küken neben seinem halb aufgefressenen Geschwisterchen. Ihr Appetit verging ihr, aber sie trank etwas Wasser.
„Noch ein Stück und wir sind auf dem Gipfel“, sagte Damaris. „Von dort werde ich einen guten Stand haben und dich hochziehen.“
Obwohl sie sich nur festhalten und mit den Beinen von der Felswand fernhalten musste, waren ihre Armmuskeln von der vorherigen Kletterei überlastet, Sie zitterten und Michelle befürchtete, dass sie einfach nachgäben. Sie konzentrierte sich auf ihre Hände, die das Band fest umklammerten. Die Fingerkuppen waren aufgerissen und teilweise blutig.
„Gut gemacht“, lobte Damaris sie, als sie über die Kante krabbelte. „Leider hat der Geier uns weit von den anderen fortgetragen, aber schau wir sind fast auf der anderen Seite.“
Das Gebirge lief sanft in eine karge Steppe über, die allmählich in Dunkelheit versank.
„Was ist mit Nick, Tejon, und Gavin?“
„Sie werden wie geplant den Weg über den Fluss nehmen. Vielleicht können wir sie am See wiedertreffen. Wollen wir schauen, ob wir einen Unterschlupf für die Nacht finden?“
Michelle ließ sich auf die Beine ziehen und sie wanderten weiter. Sie entdeckten eine kleine Höhle, kaum groß genug für sie beide, doch sie war froh, dass sie nicht unter freien Himmel schlafen mussten. Nachdem sie etwas gegessen hatte, berührte sie durch den Umhang Dsuras Stein. Er fühlte sich warm an und schien Geborgenheit auszustrahlen. Eine falsche Geborgenheit, dachte Michelle, denn es wird nicht das wirkliche Problem lösen. Alles, was sie den beiden Welten gäbe, wäre Zeit. Sie zog den Umhang enger um die Schultern. So nah am Ziel fühlte sie sich machtlos.
„Das Horn hat richtig gewählt.“
„Warum sagst du das?“
„Weil du uns in dein Herz gelassen hast, bevor du erfahren hast, dass auch deiner Welt der Untergang droht.“
Sie umfasste den Stein so fest, dass es wehtat.
„Aber das, was ich tun soll, wird nicht ausreichen!“
„Ich vertraue auf die Prophezeiung.“
Michelle erwiderte nichts, sondern starrte einige Momente in die Dunkelheit, dann ließ sie Dsuras Stein los und wünschte Damaris eine gute Nacht.
Auch wenn das Gebirge auf dieser Seite nicht steil war, musste Michelle aufpassen, wohin sie trat, denn der Boden war uneben. Kurz blieb sie stehen, um einen besorgten Blick zum Himmel zu werfen. Graue Wolken hatten ihn bedeckt und der Wind war kalt geworden. Hoffentlich regnete es nicht.
„Glaubst du, dass Alukas Hyänenmenschen auch hier einen Hinterhalt für uns gelegt haben?“, fragte Michelle, als in der Entfernung der See mit einem Wäldchen auftauchte.
„Der Wind weht momentan günstig für uns. Noch kann ich nichts Verdächtiges riechen.“
Aus dem Gebirge schlängelte sich der Fluss, den ihre Gruppe gemeinsam nehmen wollte. Er hatte seine Wildheit verloren und speiste sanft den See. Nadelbäume umringten die schimmernde Wasseroberfläche in einem losen Kreis. Ihre Nadeln wirkten eher graugrün und trotz der Nähe zum See trocken. Als sie ihn erreichten, füllten sie die Wasserschläuche und Damaris wusch das Band, das sie zum Klettern verwendet hatten. Michelle bedauerte, dass die winzigen Blutflecken nicht rausgingen, aber davon abgesehen wiesen sie keine Verschleißerscheinungen auf.
„Sind diese Bänder so stark, weil sie magisch behandelt wurden?“
„Nein, unsere Kampfbänder werden mit den Fäden der Dreizackspinne verstärkt.“
Michelle erschauderte kurz und wollte nicht darüber nachdenken, wie die Windgeister an die Fäden kamen. Damaris erhob sich und schaute zum Gebirge.
„Wie lange willst du auf die anderen warten?“
Michelle presste die Lippen aufeinander. Auch wenn sie sich beeilen musste, wollte sie nicht ohne Nick gehen. Vielleicht würde er sogar denken, sie hatte vor, alleine heimzukehren.
„Wann sollten sie eintreffen?“
„Ich schätze, sie müssten morgen Nachmittag kommen.“
„Dann breche ich übermorgen auf.“
Obwohl es zu früh für die anderen war, behielt Michelle das Gebirge in den wenigen Stunden bis Sonnenuntergang im Auge, bevor sie sich schlafen legte. Gefühlt wachte sie im Stundentakt auf und träumte abwechselnd davon, alleine durch dunkle Gänge zu irren und mit den anderen vor einem Geschöpf wegzulaufen, das eine Kreuzung aus Werwolf und Dreizackspinne war. In schnellen Stakkato trommelten die Insektenbeine über den felsigen Untergrund hinweg und näherten sich …
Michelle war froh, als sie die Lider aufschlug und fahles Licht am Horizont erkannte. Erschöpft rieb sie sich die Augen und unterdrückte ein Gähnen. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie tatsächlich die ganze Nacht auf der Flucht gewesen.
Sie kniete am Ufer nieder, um sich das Gesicht zu waschen, danach begann das Warten. Gegen Mittag ging Damaris ins Wasser, um Fische zu fangen, und Michelle war erleichtert, dass er nicht bei zweien aufhörte. Als sie wieder einmal aufstand, entdeckte sie zwei Gestalten, die sich dem See vom Gebirge aus näherten. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Es waren nicht zwei Gestalten, sondern drei!
„Damaris! Sie kommen!“
Nach diesen Worten eilte sie los, ohne auf ihn zu warten, doch er hatte keine Schwierigkeiten, sie einzuholen.
„Michelle!“, rief Nick und lief ihr entgegen. Er riss sie so heftig in die Arme, dass ihr einen Moment die Luft wegblieb, und flüsterte: „Ein drittes Mal werde ich dich nicht verlieren.“
Ihre Wangen wurden heiß und ihr Herz schlug schneller. Was immer auch geschah, sobald sie daheim waren, sie wusste nun, wie viel sie ihm bedeutete.
„Ich bin froh, dass ihr die Reise auf dem Fluss heil überstanden habt“, sagte Damaris und Tejon zuckte mit den Schultern.
„Ich habe ihnen gesagt, dass ich sie gerne in die Unterwelt geleite, wenn sie es nicht schaffen, aber das schreckte sie nicht. Selbst Gavin ist freiwillig mitgekommen.“
„Was heißt selbst?“, fragte der Satyr und lächelte Michelle an. „Ich wollte wissen, ob es dir gut geht.“
Sie erwiderte das Lächeln.
„Damaris hat mir das Leben gerettet.“
„Ich danke dir“, sagte Nick und drückte sie noch enger an sich.
Michelle schaute auf und bemerkte Schatten unter seinen Augen, als hätte er vor Sorge nicht schlafen können.
Lächelnd neigte Damaris den Kopf. „Es war mir eine Ehre. Ich habe übrigens einige Fische gefangen.“
„Das klingt gut.“ Gavin grinste breit. „Es ist Zeit für das Mittagessen.“