Pheria 1 – Verhängnisvoller Zauber – Der Wald – Teil 2

Sie marschierten den Rest der Nacht durch und machten erst eine Pause, als der Morgen dämmerte. Hungrig, aber ohne Appetit knabberte Michelle am zwiegebackenen Brot, während Imena Nick und sie musterte.
„Ich bedaure, dass ihr heute Nacht so wenig Schlaf bekommen habt. Wir werden den ganzen Tag hindurch wandern, um so rasch wie möglich in den Schutz der Heiligen Eiche zu gelangen. Sobald Aluka erfährt, dass dieser Teil des Waldes ungeschützt ist, wird sie sicher alle ihre Kreaturen hierher schicken.“
„Ich werde jede erschlagen, die sich in unsere Nähe wagt“, sagte Kenar grimmig.
Michelle dachte an die Hyänenmenschen, die sie angegriffen hatten. Wie sie sich an ihre Gruppe angeschlichen hatten. „Sollten wir nicht andere Dörfer warnen, damit sie auch flüchten können?“
„Das ist nicht nötig, denn jedes Wesen hat die Veränderung gespürt. Schau dich um, Michelle, ist das noch der Wald, den wir vor kurzem betreten haben?“
Michelle tat wie ihr geheißen. Durch Lücken im Blätterdach drangen Lichtstrahlen, was wunderschön aussah, doch etwas war anders. Der Wald hatte das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit verloren. Sie schüttelte den Kopf und Imena lächelte zufrieden.
„Gehen wir weiter.“

Seit einiger Zeit fielen grüne Blätter herab und bedeckten den Boden mit einem Teppich, über den selbst Michelle und Nick leise gehen konnten. Mehrere Bäume waren bereits vollkommen kahl und die Blätter, die im Fall kurz ihre Haut streiften, fühlten sich eigenartig weich an.
„Bei Dsura, was ist hier los?“, fragte Kenar Chalina, während er seine Schultern und den Schwertgriff frei klopfte.
„Ich glaube, dieser Teil des Waldes hat einen Schock erlitten.“
„Oder ist der Todeszone stärker ausgeliefert“, sagte Damaris, dann musterte er die Nymphe. „Wie geht es dir?“
Chalina lächelte, aber ihre Augen strahlten nicht.
„Auf mich hat es keine direkten Auswirkungen.“
„Das könnte sich ändern, wenn du dich mit dem Wald verbindest. Du musst heute Abend Nahrung aufnehmen.“
Was genau Damaris damit meinte, erfuhren Michelle und Nick, als sie ihr Nachtlager aufschlugen. Die Nymphe schlüpfte aus den Stoffschuhen und feine Wurzeln wuchsen aus ihren Fußsohlen. Als sie in die Erde eindrangen, wurde Chalinas Atem schneller und Schweißperlen traten ihr auf die Stirn.
„Wir können leider nichts für sie tun“, sagte Damaris, als Michelle ihn verzweifelt anschaute. „Eine Nymphe muss alle drei bis vier Tage essen, wenn sie bei Kräften bleiben will.“

Drei Tage später hatten fast alle Bäume und Sträucher ihre Blätter verloren und auch ihre Früchte rotteten vor sich hin, während ihr grünes Leichentuch unter sich das Gras und die Blumen erstickte. Michelle hatte das Gefühl über einen Friedhof zu wandern, vielleicht war es der Schmerz in Chalinas Augen, der sie so empfinden ließ. Auf einmal sah sie hinter den Gerippen der Bäume etwas Grünes. Misstrauisch zwinkerte sie wie jemand, der durch die Wüste ging und plötzlich eine Oase erblickte.
Beim Näherkommen sah Michelle, dass es sich scheinbar um eine efeuähnliche Pflanze handelte. Die Ranken, teilweise von einem Umfang wie ein Autoreifen, wucherten wild übereinander und die Unverholzten trugen rosa Blüten. Ihre Form erinnerte an Kleeblätter und sie dufteten stark.
„Warum geht es dieser Pflanze so gut?“, fragte Michelle.
„Das ist ein Würgebaum“, erklärte Chalina. „Nachdem Vögel und andere Baumbewohner seine Samen verteilt haben, ernähren sie sich von ihrem Wirtsbaum und wachsen von oben nach unten. Wenn der Würgebaum den Boden erreicht, bildet er einen Teil seiner Ranken als Wurzeln aus, damit er nicht umstürzt, sobald sein Wirt morsch wird.“
Die Nymphe legte die Hand auf die Ranken, die träge zurückwichen, und spähte in den entstandenen Spalt hinein. „Der Hohlraum ist so groß, dass wir fast alle hineinpassen.“
Imena musterte den Baum. „Willst du dich hier mit dem Wald verbinden?“
Als Chalina nickte, sagte Kenar: „Ich werde die Zeit nutzen und nach etwas Essbarem suchen.“
Damaris trat an die Seite des Zentaurs. „Ich begleitete dich.“
„Ich will ebenfalls mitkommen“, meinte Nick.
Die Steinfrau wandte sich vom Würgebaum ab. „Wir bilden zwei Gruppen. Damaris, du gehst mit Nick und ich werde mit Kenar suchen. Tejon, Gavin, ihr passt auf Michelle und Chalina auf.“
„Wir sind bald zurück“, sagte Nick zu ihr, bevor er Imena folgte. Hoffentlich fanden sie etwas, denn ihre Vorräte waren fast erschöpft.
Chalina berührte erneut die Ranken und der Spalt wurde größer.
„Kommt herein.“
Michelle folgte Gavin und ihre Augen gewöhnten sich an das Dunkle. Vom Wirtsbaum war nichts mehr übriggeblieben außer ein paar Stücke morsches Holz, das vor sich hinrottete. Nachdem alle drinnen waren, schoben sich die Ranken zurück und Michelle spürte ein leichtes Frösteln. Sie fühlte sich, als wäre sie in das Netz einer Spinne geraten.
„Das ist vermutlich einer der sichersten Orte, die es in diesem Teil des Waldes gibt“, sagte Chalina. „Nicht nur sind wir vor feindlichen Augen verborgen, der Duft der Blüten ist so stark, dass er die Nasen aller Raubtiere verwirrt.“
Nach diesen Worten setzte sie sich, um ihre Schuhe auszuziehen, und lächelte Gavin an.
„Nutz meine Wehrlosigkeit nicht aus, in Ordnung?“
Errötend scharrte der Satyr mit dem rechten Huf.
„Das würde ich nie tun.“
Als Chalina die Augen schloss, ließ sich auch Michelle auf den Boden nieder und beobachtete besorgt, wie die zarten Wurzeln aus ihren Fußsohlen wuchsen und in die Erde eindrangen, doch ihre Züge blieben normal. Erleichtert tauschten Gavin und sie einen Blick aus.
Selbst im Inneren des Baumes war der Duft überwältigend und legte sich auf sie wie eine schwere Decke. Hoffentlich übernachteten sie hier nicht, sonst würde Michelle mit Kopfschmerzen erwachen. Sie ging zu den Ranken und fand eine Lücke, wo sie hinaussehen konnte. Leider war die Luft, die hineinströmte, nur ein bisschen besser.
Auf einmal bemerkte sie eine Bewegung hinter dem Gestrüpp und erstarrte. Die anderen konnten noch nicht zurück sein. Als sich ein Wolf durch eine Lücke im Dickicht zwängte, entspannte sie sich etwas, aber dann kamen weitere. Nachdem das Rudel vollständig war, senkten die fünf Tiere ihre Köpfe und bewegten sich, die Nasen dicht über den Boden, auf ihr Versteck zu. Sie folgten ihrer Spur! Michelles Herzschlag beschleunigte sich, aber sie wagte nicht, sich zu bewegen.
Etwa zehn Meter vom Baum entfernt, begann der erste Wolf zu niesen und fuhr sich wimmernd mit der Pfote über die Nase. Obwohl der Geruch ihnen so unangenehm war, versuchten sie, die Spur immer wieder aufzunehmen, und liefen irritiert vor dem Baum im Kreis.
„Ich muss sie fortlocken“, flüsterte Tejon. „Wenn die Hyänenmenschen auftauchen, könnten sie auf die Idee kommen, dass wir uns hier verstecken.“
„Aber-“
„Keine Sorge, Totengeister sterben nicht.“
Sein Körper löste sich auf, Tejon erschien auf der anderen Seite der Ranken und rannte los. Sein Weglaufen schien das Jagdfieber der Wölfe anzustacheln und sie folgten ihm, ohne zu zögern. Michelles Hand umklammerte die Ranke vor ihr. Hoffentlich holten sie ihn nicht ein.
„Sind sie fort?“, fragte Gavin leise.
Sie nickte, doch da hörte sie ein Rascheln und hielt den Atem an. Ein Mischwesen, das zu Hälfte Zentaur und zu anderen Hälfte ein Werwolf war, trat in ihr Sichtfeld. Sein Oberkörper war von zotteligem Fell bedeckt und es führte eine Gruppe von vier hechelnden Hyänenmenschen an. Der Wolfszentaur blieb stehen und schaute auf den Boden.
„Die Wölfe sind dort entlang“, sagte ein Hyänenmensch.
„Hier haben sie sich aber länger aufgehalten.“
Er näherte sich den Baum und Michelle zog ihren Kopf rasch vom Spalt weg.
„Verdammte Blüten“, fluchte der Wolfszentaur.
Bleib einfach weg, dachte sie, während sie sich bemühte, ruhig zu atmen. Am besten du gehst weiter. Draußen war es eigenartig still und Michelle rechnete fast damit, dass sich in den Spalt gleich eine Hyänenschnauze schob.
Plötzlich hörte sie einen Schrei hinter sich und eine Stimme sagte: „Wen haben wir denn da? Einen kleinen Satyr.“
Erschrocken wandte sie den Kopf und bemerkte, dass Gavin wirklich nicht mehr da war. Hatte er einen Spalt gefunden, durch den er sich hatte zwängen können? Michelle schaute wieder durch die Lücke. Der Satyr wand sich im Griff eines Hyänenmenschen, der ihn zu seiner Gruppe trug. Schnüffelend beugte sich der Wolfszentaur über ihn.
„Du bist bei der Sterblichen gewesen.“ Die Stimme wurde tiefer. „Wo ist sie?“
Sie suchten gezielt nach ihr! Ein kalter Schauder lief Michelle über den Rücken. Darum waren die Wölfe zuerst nicht den Fährten ihrer Begleiter gefolgt. Gavin hörte auf zu zappeln und starrte den Wolfszentaur an.
„Wenn ich euch sage, wo sie ist, verschont ihr mich dann?“
„So soll es sein.“
Der Satyr deutete auf sie und die Hyänenmenschen schlugen auf die Ranken ein. Rissen wie tollwütige Hunde an ihnen. Vor Angst rauschte das Blut so laut in ihren Ohren, dass sie kaum das Reißen und Splittern der Ranken hörte. Hilflos schaute Michelle zu Chalina, die immer noch nicht bei Bewusstsein war. Irgendetwas sagte ihr, dass die Hyänenmenschen sie töten würden, wenn sie sie entdeckten. Sobald die Öffnung groß genug war, nahm sie ihren Mut zusammen und krabbelte freiwillig heraus. Hoffentlich gingen sie nicht hinein, aber die Hyänenmenschen zogen sie eilig zu ihrem Anführer.
„Was wollt ihr von mir?“
Der Wolfszentaur hob die Lefzen.
„Endlich lernen wir uns kennen, Menschenmädchen.“ Er hob ihr Kinn an. „So ein schwächliches Wesen wie du sollst diese Welt retten?“
Sie antwortete nicht und er hob die Lefzen noch stärker. Seine scharfen Zähne waren strahlend weiß.
„Meine Gebieterin findet heraus, ob du gewöhnlich bist oder wirklich ein Geheimnis in dir trägst. Gib mir jetzt den Diamanten meiner Herrin!“
„Wir haben ihn nicht.“
„Durchsucht sie.“
Einer der Hyänenmenschen zerrte ihr die Handtasche von den Schultern. Beim Versuch sie zu öffnen, riss er mit seinen großen Pranken fast den Deckel ab.
„Außer diesem Ding hier ist da nichts“, sagte er und reichte dem Wolfszentauren ihr Smartphone, während ein anderer mit seinen stinkenden Pfoten Michelle abtastete.
„Du hast mich genug hingehalten, Mensch, wo ist der Diamant?“
„Wir haben ihn nicht“, wiederholte sie leise.
Ihr in die Augen starrend drückte er zu und ihr Smartphone gab unter der Kraft nach wie eine billige Getränkedose. Metall und Plastik brachen und der Wolfszentaur ließ die Einzelteile fallen, während Michelle nach Luft schnappte.
„Ist das immer noch deiner Antwort?“
Sie nickte und der Wolfszentaur fuhr seinen Untergebenen an: „Lass das Ding endlich los. Du siehst albern damit aus.“
Die Handtasche plumpste zur Erde und ihr Schlüsselbund in der Innentasche klirrte.
„Das nennst du eine gründliche Durchsuchung?“
„Das sind nur meine Schlüssel.“
Der gescholtene Hyänenmensch bückte sich, um ihre Handtasche aufzuheben, und zerfetzte sie, bis er die Schlüssel in der Pranke hielt.
„Gebt sie mir zurück!“
Doch er warf sie achtlos fort. Als Michelle hinterher stürzen wollte, wurde sie festgehalten.
„Schaut nach, was der Satyr bei sich hat!“
Grob entrissen die Hyänenmenschen ihm die Tasche, um den Inhalt auszuschütteln. Wasserschlauch und das Gewürzbeutelchen fielen zu Boden. Gierig schnappte einer nach ihm. Als er ihn zerriss, verteilten sich die getrockneten Gewürze in der Luft und das frustrierte Knurren des Wolfszentauren ließ Michelle erschaudern.
„Einer der anderen muss ihn haben.“
Mit funkelnden Augen starrte er Gavin an.
„Sprich, wer hat ihn?“
Gavin duckte sich.
„Niemand, wir suchen ihn noch. Ich schwöre es bei Dsura.“
„Diese verdammten Fledermäuse. Haben die Gehirne von Spatzen!“
„Was machen wir nun?“, fragte einer der Hyänenmenschen.
„Wir bringen sie wie vorgehabt zu unserer Herrin. Gebt den Satyr seinen Wasserschlauch zurück und verbindet ihnen die Hände.“
„Ihr habt versprochen, mir das Leben zu schenken!“, rief der Satyr und seine Stimme überschlug sich vor Angst.
„Das tue ich.“ Der Wolfszentaur lächelte. „Sobald du ein Diener Alukas bist, wirst du dich nie wieder vor uns fürchten müssen.“
Während der Satyr den Wolfszentaur entsetzt anstarrte, lachten die Hyänenmenschen, einer stopfte den Wasserschlauch in die Tasche und hängte sie Gavin um. Auch wenn er sie verraten hatte, hatte Michelle Mitleid mit ihm, denn er wirkte verängstigt wie ein Kind. Nachdem sie ihnen die Hände mit Stricken gefesselt hatten, ließen Alukas Schergen sie in der Mitte gehen und sie unterdrückte den Drang, sich nach dem Würgebaum umzusehen. Vermutlich war Chalina noch mit der Erde verbunden und hatte nicht mitbekommen, was geschehen war. Michelle überlegte, wie sie den anderen die Suche erleichtern konnte. Sie hob die Füße kaum an, damit sie die Blätter stärker aufwühlte. Das fiel ihr nicht schwer, denn sie war wirklich erschöpft. Als der Wolfszentaur ein Heulen ausstieß, antwortete ihm von irgendwoher jemand. Rief er das Rudel, das Tejon jagte?
Der Satyr wimmerte vor sich hin: „Ich will kein Monster werden.“
„Die anderen werden uns retten.“
Er reagierte nicht auf ihre Worte und Michelle schaute auf ihre Handgelenke. Sie hatte einmal auf Youtube ein Video gesehen, wie sich eine Frau von Kabelbinder befreit hatte. Allerdings hatte sie das Problem, dass sie momentan unter Beobachtung war. Es raschelte und die Wölfe schlossen sich ihnen an. Das Rudel bestand immer noch aus fünf Tieren, also glaubte Michelle nicht, dass es gegen Tejon gekämpft hatte.
Obwohl es dunkel wurde, liefen sie weiter. Michelle machte sich Mut, indem sie sich sagte, dass Alukas Diener es nur so eilig hatten, weil sie einen Kampf fürchteten. Als sie vor Erschöpfung zu stolpern begann, packte der Wolfzentaur sie und setzte sie auf seinen Rücken. Die Schwertscheide war direkt vor ihr und der gedrechselte Griff der Waffe schien sie höhnisch anzugrinsen. Wären meine Hände doch nur nicht gefesselt!, dachte Michelle, bevor sie einschlief.

Sie kam auf welken Blättern zu sich und bemerkte, dass die Sonne fast im Zenit stand. Wenige Meter vor ihr lagen zwei Hyänenmenschen.
„Unsere Nymphe ist erwacht“, sagte eine Stimme hinter ihr, aber sie drehte sich nicht um.
„Dummkopf, erwähne keine Nymphen! Wie gerne wäre ich bei einer anderen Truppe, um sie jagen zu können.“
Michelle richtete sich auf. Neben ihr saß der Satyr mit angewinkelten Beinen auf der Erde und starrte ins Leere. Scheinbar hatte er sich schon aufgegeben und sie erinnerte sich, dass er gesagt hatte, er wollte kein Monster werden. Sie stieß ihn sacht an.
„Was haben sie mit dir vor?“
„Aluka wird mich in einen Hyänenmenschen verwandeln und ich werde bis an mein Lebensende ihr ergebener Sklave sein.“
„Noch sind wir ihr nicht ausgeliefert. Wo, meinst du, ist sie jetzt? Hier im Wald?“
„Nein, sie soll an der Küste bleiben, um ihre Macht zu schonen.“
Dann hatten ihre Freunde mehr als eine Woche Zeit, sie zu befreien – oder sie konnten versuchen, selbst zu fliehen. Michelle schaute sich um. Zwei der Hyänenmenschen hielten Wache, während die anderen schliefen. Die Wölfe waren nicht zu sehen. Der gesamte Boden um sie herum war mit den welken Blättern bedeckt, die mögliche scharfe Steine verbargen, also bewegte sie etwas die Handgelenke, in der Hoffnung die Fesseln zu lockern.
„Warum redest du noch mit mir?“ Gavin ließ die Ohren sinken. „Ich habe dich verraten.“
„Du hattest Angst um dein Leben.“
„Die anderen wären aber lieber gestorben.“
„Du bist nicht die anderen. Ich weiß nicht, ob ich anders als du gehandelt hätte. Ich meine, ich hätte es mir gewünscht, doch ich hatte vor ihnen auch Angst.“
Die Fesseln gaben einfach nicht nach und dann kehrten die Wölfe zurück. Mit blutigen Stücken im Maul, die sie vor dem Wolfszentaur ablegten. Er bückte sich und hob eins auf. Als er anfing, daran zu reißen, wandte Michelle den Kopf ab. Sie hoffte, dass es irgendein Tier gewesen war.
Auf einmal stand einer der Wölfe vor ihnen und spuckte etwas mit roten Fell aus. Ihr wurde übel.
„Esst!“, befahl der Wolfszentaur.
„Danke so hungrig bin ich nicht, dass ich etwas esse, was ein Tier im Maul gehabt hat.“
„Du wirst dich bald wie ein Tier darauf stürzen.“
Der selbstbewusste Ton machte ihr Angst, aber da kam ihr eine Idee, wie sie den Transport verlangsamen konnte. Sie wandte sich Gavin.
„Du musst verhindern, dass ich das mache, sonst bricht mein Immunsystem zusammen.“
„Dein was?“
„Ich meine, dass ich davon sehr krank werde und höchstwahrscheinlich daran sterbe.“
Seine Augen weiteten sich, bevor er mit seinem Huf das Fleisch außer Reichweite stieß. Es tat ihr leid, dass sie Gavin belog und ihm Angst machte. Am liebsten hätte sie sich umgedreht, um zu schauen, ob auch der Wolfszentaur beunruhigt war, aber das wäre zu auffällig gewesen. Sie konnte nur hoffen, dass er kein Risiko einging. Die Hyänenmenschen zogen sie auf die Füße und sie brachen auf.
Als sie an einem Busch vorbeigingen, an dem matschige Brombeeren hingen, hielt der Wolfszentaur an.
„Ihr könnt von den Früchten essen“, sagte er.
Während Michelle aß und sich beim Pflücken ungeschickt anstellte, sah sie sich um und bemerkte ein Feennest in den Ästen direkt über dem Wolfzentaur und seinen Wölfen. Schnell, sie brauchte einen Stein! Nein, auf keinen Fall durfte sie hastig vorgehen. Sie bückte sich und ihre Finger umschlossen einen. Ihr Herz raste, als sie sich wieder aufrichtete. Hoffentlich traf sie. Sie warf und verfehlte das Nest. Nur der Ast bewegte sich leicht.
„Was sollte das werden?“ Der Wolfszentaur lachte, während die Feen herausströmten. Michelle riss Gavin zu Boden. Lichtblitze flogen durch die Gegend. Die Feen griffen auch die Hyänenmenschen an. Als die Lichtblitze aufhörten, wartete sie einige Momente ab und richtete sich vorsichtig auf. Alukas Diener lagen am Boden, dennoch ließen die wütenden Feen nicht von ihnen ab. Scheinbar vor Erschöpfung fielen etliche auf die Erde. Als die Restlichen in ihr Nest zurückgekehrt waren, rannten sie los, bis sie zusammenbrachen. Schwer atmend sah Michelle zurück.
„Wir müssen die Fesseln aufbekommen“, keuchte sie und durchwühlte die Blätter nach einem spitzen Stein.
Auch Gavin war außer Atem. „Ich kann gar nicht glauben, wie viel Glück wir gerade hatten. Bei Dsura, ich habe Feen noch nie so wütend erlebt. Vielleicht haben sie die verdorbene Magie in Alukas Kreaturen gespürt und deshalb so viele Schlafzauber statt ihrer üblichen Magie gewirkt.“
„Wie lange wirken diese?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Vermutlich nur kurz. Auch ihnen entzieht das Tote Land Magie.“
Endlich entdeckte sie einen Stein mit scharfer Kante.
„Komm her, Gavin.“
„Sei vorsichtig mit dem Teil.“
Seine Fesseln fielen zu Boden und Gavin löste ihre. Einen Moment starrte sie auf die Stricke. Sollten sie sie einfach liegen lassen? Die Wölfe würden ihre Geruchsspur folgen. Schließlich warf sie zur Sicherheit die Reste der Fesseln unter einen Busch und schaute auf Gavins Tasche.
„Steck den Stein ein.“
„In Ordnung.“
„Wohin jetzt?“, fragte Michelle.
„Ich fürchte, wir sind umsonst geflüchtet. Die Wölfe werden unsere Spur wieder aufnehmen.“
Und der Wolfszentaur und die Hyänenmenschen werden vermutlich verdammt wütend auf Michelle sein. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, dann riss sie sich zusammen.
„Komm“, sagte sie und nahm seine Hand.
Während sie durch den Wald hetzten, fragte Michelle sich, ob das wirklich eine so gute Idee war. Sollten sie ihre Kräfte nicht sparen, damit sie sie bei einer Entdeckung nutzen konnten? Sie blieb stehen. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, die sich rasch hob und senkte. Dann schaute sie sich um.
„Kommt dir nicht irgendetwas bekannt vor?“
„Nein, ich lebe im anderen Teil des Waldes.“
Michelle horchte, ob sie ein verräterisches Rascheln oder Knacken vernehmen konnte, währenddessen setzte sich der Satyr auf die Erde.
„Ich brauch eine Pause.“
Auch Michelle sank auf die Knie und bat Gavin um einen Schluck Wasser. Der Himmel über ihnen war in ein tieferes Blau gewechselt, bald würde es dunkel werden.
Gavin sagte: „Ich glaube, wir sollten in dieser Richtung weitergehen. Dort liegt der zweite Heilige Baum. Wenn wir es schaffen in seinen Schutzkreis zu kommen, wären wir in Sicherheit.“
„Also gut.“ Michelle versuchte, aufzustehen, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Auch wenn ihr Geist sie drängte weiterzugehen, ihr Körper hatte seine Grenze erreicht. Zwielicht legte sich über den Wald.
„Lass uns Wachen einteilen“, flüsterte sie.
„Glaubst du, dass das etwas bringt?“
„Ich möchte auf jeden Fall nicht von unseren Verfolgern aus den Schlaf gerissen werden. Du etwa?“
Er schüttelte den Kopf. „Übernimmst du die erste Wache?“
Sie war hundemüde, aber sie war auf die Idee gekommen. Da war es nur gerecht, wenn sie als Beispiel voranging.
„Ja.“
Gavin legte sich hin und war innerhalb weniger Augenblicke eingeschlafen, während Michelle überlegte, wie sie munter werden konnte. Nein, sie durfte nicht überlegen, sondern musste ihre Aufmerksamkeit auf die Umgebung richten. Sie hörte Vogelgesang, der ganz hübsch war, sie aber einlullte. Sie drehte den Kopf immer wieder in eine andere Richtung. Vermutlich wäre Aufstehen und etwas gehen besser gewesen, doch sie hätte sich dann wie ein Hinweisschild gefühlt.
Zwischendurch drückte sie auf den Beleuchtungsknopf ihrer Uhr. Als es Zeit für den Wachwechsel war, weckte sie den Satyr.
„Gavin, du bist dran“, sagte sie leise.
Es dauerte eine Weile, bis sie ihn so weit wach hatte, dass er sich brummend aufrichtete. Ausnahmsweise schlief sie schnell ein. Michelle hatte nicht erwartet, dass sie vor Sonnenaufgang aufwachte, aber ihre Schlafstörung weckte sie. Gavin war im Sitzen eingeschlafen und sie unterdrückte ein Seufzen. Wenn er nicht wild entschlossen war, Wache zu halten, ergab es keinen Sinn, ihn zu wecken. Sie konnte die Wache auch nicht übernehmen, wenn sie am nächsten Tag nicht zusammenbrechen wollte. Hoffentlich haben wir Glück, dachte sie.

Zu ihrer Erleichterung war es Gavin, der sie weckte. Müde rieb sie sich die Augen, während sie sich misstrauisch umsah. Ihr war schlecht vor Hunger. Gestern hatte sie nicht mehr an Essen gedacht. So erschöpft war sie gewesen.
„Guten Morgen, Gavin, wie geht es dir?“
Verlegen trat der Satyr von einem Bein auf das andere.
„Ich kann nicht fassen, wie nett du bist, dabei habe ich dich wieder enttäuscht. Ich bin eingeschlafen.“
„Vielleicht ist es einfacher, die erste Wache zu halten.“
Sie gingen weiter und sie hatte den Eindruck, dass Gavin die Strapazen der Flucht besser vertrug als sie. Ihre Glieder schmerzten, als wäre eine Grippe in Anmarsch, und sie war immer noch erschöpft. Zwischen den Bäumen glitzerte es und sie kamen an einen See, an dessen Ufer Schilf sich im Wind wiegte. Sie fanden eine freie Stelle und knieten nieder. Mit den Händen schöpfte Michelle ein paar Schlucke Wasser. Nie hätte sie gedacht, dass sie eines Tages wie ein Tier aus einem offenen Gewässer trinken würde. Als sie aufblickte, sah sie auf der anderen Uferseite etwas Helles und stand vorsichtig auf.
„Komm“, sagte sie.
„Was ist?“, fragte Gavin, der gerade den Wasserschlauch gefüllt hatte.
„Ich will mir etwas anschauen.“
Vorsichtig schlichen sie um den See herum. Das hohe Schilf schützte sie vor Entdeckung und endete an dem grasbewachsenen Ufer, das sie von der anderen Seite aus gesehen hatte. Auf dem Boden lag eine Nymphe. Aus einer tiefen Wunde am Hinterkopf war eine goldene, dickflüssige Substanz gesickert und hatte das Haar verklebt. Nymphenjagd …
„Wir sollten verschwinden“, flüsterte Gavin und seine Stimme bebte vor Angst.
Die Hyänenmenschen, die diese Gräueltat verübt hatten, waren schon lange fort, wollte sie antworten, doch ihr Mund öffnete sich nicht, um die Worte zu formen. Nicht weil sie daran zweifelte, sondern weil sie zu erschüttert war. Sie ging in die Richtung, aus der die Nymphe geflüchtet war. Wie eine Motte, die in die Flammen flog. Gavin flüsterte kurz ihren Namen, bevor er ihr folgte. Ein Geruch von Harz lag unheilvoll in der Luft und wurde stärker. Abrupt blieb Michelle stehen. Ihr traten Tränen in die Augen. Um den Stamm eines kleinen Baumes hatte man tote Nymphen gelegt.
„Armes Kind“, flüsterte Gavin. Der Anblick war wohl auch für ihn so traurig, dass er vergaß Angst zu haben.
„Welches Kind?“
„Der Baum. Nymphen können sich in Bäume verwandeln, doch das nützt ihnen nichts. Die Hyänenmenschen lassen keine entkommen. Wenn eine Nymphe ihnen auf diese Weise entgehen will, verwunden sie den Stamm, aber nicht so, dass sie sofort stirbt. Ihr Leid soll über einige Tage andauern.“
Michelle lief zum Baum und streichelte über die Rinde.
„Verwandle dich zurück! Wir werden dir helfen.“
„Unmöglich, Verwandlungen kosten sehr viel Kraft.“
Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Wie konnte man so grausam sein? Seine tote Familie während des Sterbens ansehen zu müssen, war schrecklich.
„Hilf mir, die Toten wegzuziehen.“
Gavin sah sich um.
„Bist du sicher, dass wir dafür Zeit haben?“
„Du meintest, dass Weglaufen umsonst ist, dann können wir diesem Kind auch helfen.“
Die toten Nymphen ins Gebüsch zu ziehen, kostete sie keine Überwindung. Sie rochen nach ätherischen Ölen und wirkten im Tod wie Puppen. Als sie das geschafft hatten, sahen sie die tiefen Schnitte am Stamm, aus denen Harz sickerte. Michelle strich über die glatte Rinde.
„Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst. Du brauchst keine Angst zu haben. Bald bist du wieder mit deiner Familie zusammen und wirst keine Schmerzen mehr haben.“
Sie traute sich nicht, Gavin zu fragen, ob er es merken würde, wenn die kleine Nymphe starb. Die Hand sanft auf den Stamm gelegt, saß sie neben ihr und wünschte sich, ihr wäre eine schöne Geschichte eingefallen, aber ihr Kopf war leer. Auf einmal schien ein Zittern durch den Stamm zu laufen, so kurz, dass Michelle dachte, sie hätte es sich eingebildet.
„Es ist vorbei“, flüsterte der Satyr und sie erhob sich, damit sie den Ort verlassen konnten.
Sie waren noch nicht weit gekommen, als es um sie herum raschelte. Wölfe sprangen aus dem Gebüsch und stellten sich ihnen in den Weg. Sie wandten sich um, aber hinter und neben ihnen waren Hyänenmenschen aufgetaucht. Triumphierend grinsten sie und einer stieß ein Jaulen aus. Betäubt von dem Ereignis waren sie in einen Hinterhalt gelaufen und Michelle machte sich nichts vor: Dies war die Truppe, die sie hereingelegt hatte. Durch die Schwellungen und Stellen, die wie Brandwunden aussahen, erschienen die Hyänenmenschen noch hässlicher. Sie hörte Hufgetrappel und schaute sich um. Der Wolfszentaur kam herangaloppiert. Ihn hatte es am schlimmsten erwischt. Das linke Auge war zugeschwollen und an einigen Stellen war ihm das Fell ausgefallen. Mit dem rechten Auge fixierte er sie, als er vor ihr hielt.
„Du hast auf jeden Fall mehr Mut als ein Satyr. Das bewundere ich.“ Er ergriff ihren Hals mit seiner Prankenhand und würgte sie. „Wie fühlt es sich an keine Luft zu kriegen, Menschenmädchen?“
Die Hyänenmenschen jaulten aufgeregt. Tränen liefen ihr aus den Augen, während sie versuchte trotz des zusammengequetschten Halses Atem zu bekommen. Als Michelle glaubte, ohnmächtig zu werden, ließ er sie los. Hustend fiel sie auf den Boden.
„Mach das nicht noch einmal.“
„Habt ihr die Nymphen getötet?“
„Nein, den Spaß hatten andere.“
Die Hyänenmenschen stießen ein klagendes Geheul aus.
„Still“, befahl der Wolfszentaur, „und du Menschenmädchen stehst auf. Wir gehen weiter.“
Gavin half ihr auf und sie fügten sich. Dieses Mal fesselten die Hyänenmenschen ihnen die Hände hinter dem Rücken. Ihre Flucht war misslungen, doch sie hatte etwas gelernt: Dass Alukas Geschöpfe wirklich so schrecklich waren, wie die anderen erzählt hatten. Sie erinnerte sich an das durchdringende Heulen, das die Hyänenmenschen vorhin von sich gegeben haben. Hatten die anderen das gehört? Sie wollte nicht glauben, dass ihre Begleiter tot waren.
Am späten Nachmittag näherte sich ihnen eine Fledermaus und der Wolfszentaur entfernte sich ein Stück, bevor er den Arm ausstreckte. Wie ein zutraulicher Papagei landete das Tier darauf und krabbelte hinauf, bis es das Ohr erreicht hatte. Nachdem es etwas hinein gewispert hatte, flog es davon. Als der Wolfszentaur sich umwandte, hatte er eine finstere Miene. Schlechte Nachrichten, dachte Michelle und fuhr zusammen, als er drei Mal hintereinander lang jaulte. Ein Schaudern überlief sie, denn aus mehreren Richtungen wurde es erwidert.
Ohne seinen Leuten zu erklären, welche Befehle er erhalten hatte, marschierte er los und in der Abenddämmerung trafen sie einen weiteren Trupp Hyänenmenschen. Der Wolfszentaur und der andere Anführer redeten leise miteinander. Leider konnte sie kein einziges Wort verstehen, aber ihr wurde alles klar, als der fremde Trupp sie umringte und der andere zurückwich. Sie waren übergeben worden, doch der Wolfszentaur schritt plötzlich auf Michelle zu.
„Ich hoffe, du lebst noch, wenn Aluka mit dir fertig ist, denn ich habe einiges mit dir vor.“ Er wandte sich an den anderen Anführer. „Sieh dich vor. Das Menschenweibchen ist einfallsreich.“
Als der Wolfszentaur mit seiner Gruppe verschwand, schaute der Anführer ihm mit zusammengekniffenen Augen nach. Michelle meinte, in ihnen Hass funkeln zu sehen.
„Wir hätten den Zentaurenstamm auch ohne seine Hilfe besiegen können“, knurrte einer seiner Leute.
„Aluka will es so.“ Der Anführer musterte Michelle und Gavin. „Ihr seht aus, als würdet ihr bald zusammenbrechen. Wir werden hier rasten.“
War dieser Hyänenmensch vielleicht freundlich?, fragte sie sich, dann aber stieg die Erinnerung an die ermordeten Nymphen auf und ihre Muskeln spannten sich an. Nachdem Michelle sich auf den Boden gesetzt hatte, atmete sie erleichtert durch. Ihre Füße und Beine schmerzten. Ein zweites Mal würde ihnen eine Flucht schon allein wegen ihrer Erschöpfung nicht gelingen. Jedoch hatte der Wolfszentaur einen Fehler gemacht, indem er sie nicht durchsuchen ließ. Der scharfkantige Stein lag noch immer in Gavins Tasche. Bis sie sich erholt hatten, konnten sie sich etwas Neues überlegen.
Auf einmal stand der Anführer der Hyänenmenschen auf und kam auf sie zu. Als er sich vor sie hinhockte, schlug ihr sein heißer Atem entgegen. Er streckte die Hand aus, um ihr langsam durchs Haar zu streichen, während Michelle vor Ekel erschauderte.
„Du wärst ein hübsches Hyänenweibchen. Hättest nur die Beine einer Hyäne statt einer Ziege.“
Entsetzt starrte Michelle den Hyänenmenschen an. Der Gedanke, dass sie so enden konnte, war schrecklich und sie war nie auf die Idee gekommen, dass ihr auch die Gefahr drohte, verändert zu werden, doch so abwegig erschien es ihr nicht. Der Teil, den Aluka bei Zentauren und Satyren verzauberte, war der menschliche. Würde sie es wirklich tun? Sie war immerhin nach der Prophezeiung das Mädchen, das diese Welt retten konnte. Viel wahrscheinlicher war es, dass Aluka sie nach einer eingehenden Untersuchung tötete.

Ohne zu frühstücken, brachen sie am nächsten Morgen auf. Als ihr Magen das erste Mal knurrte, lachten die Hyänenmenschen und der Anführer versprach, dass sie in der Ebene einen Erendo erlegen würden. Michelle betrachtete die kahlen Bäume und Sträucher um sie herum. Daheim ist es Frühling, dachte sie. Wenn sie nicht in das Horn geblasen hätte, würden Nick und sie das schöne Wetter mit ihren Freunden genießen. Nick … Warum hatten die anderen noch keinen Befreiungsversuch unternommen? Sie schaute sich um, als könnte ihr bloßer Willen, sie dazu zwingen zu erscheinen. Rechts von ihnen fiel der Boden zu einer großen Senke ab, die parallel zu ihren Weg verlief.
Auf einmal sprang ein Schatten von einem Baum und gleichzeitig hörte sie ein Rascheln hinter sich. Tejon, bleich wie der Tod und mit nackten Oberkörper, landete zwischen den ersten Hyänenmenschen. Bevor sie reagieren konnten, hatte er sie bereits berührt und sie sanken mit gebrochenen Augen zu Boden. Michelle sah über die Schulter und erkannte Chalina und Damaris, die jeweils zwei Hyänenmenschen mit ihren Ranken und Bändern würgten. Tejon stürmte an Michelle und Gavin vorbei und sie merkte, dass die schwarzen Linien, die über seinen Körper liefen, sich vervielfacht hatten.
Nachdem auch die anderen Hyänenmenschen tot waren, fragte Chalina: „Geht es euch gut?“
„Später“, sagte Damaris. „Kehren wir zu den anderen zurück.“
Erleichtert folgte sie den Drei und sah, wie ihnen Nick, Kenar und Imena entgegenkamen. Ihre Gruppe war vollzählig und tiefe Dankbarkeit erfüllte Michelle, sodass ihr die Worte fehlten.
„Gute Arbeit“, sagte der Zentaur. „Keiner konnte einen Laut ausstoßen.“
Nick schluckte. „Es tut mir leid, dass du so lange warten musstest. Haben sie dir etwas getan?“
Sie schüttelte den Kopf, während Imena Tejon sein Hemd reichte und er hineinschlüpfte. Nachdem er es sorgfältig zugeknöpft hatte, nahm er seinen Umhang entgegen.
„Runter!“, befahl Damaris auf einmal und riss sowohl Michelle als auch Nick mit sich. Mit einen Plopp landeten mehrere Pfeile in den Bäumen vor ihnen und ein vertrautes Heulen ertönte.
„Zur Senke!“, befahl Imena und sie rannten los.
Michelle spürte, dass Damaris sich direkt hinter ihr hielt, um sie mit seinen Körper zu schützen. Begleitet vom Sausen der Pfeile erreichten sie die Senke und rutschten den Abhang hinunter. Als sie stolperte, riss Nick sie wieder hoch. Sie liefen auf einen Höhleneingang zu, der sich wie ein lauerndes Maul aus dem Boden erhob. Erst als sie nur wenige Meter von ihm entfernt waren, entdeckte Michelle die mit Efeu umrankten Totempfähle. Geschnitzte Nymphen, Zentauren und Satyre wanden sich um den Pfahl und hatten die Augen geschlossen.
„Uns bleibt keine andere Wahl“, sagte Imena. „Wir werden durch dieses Tor in die Unterwelt absteigen.“
Gavin begann zu zittern. „Oh, weh uns.“
In der Hand der Steinfrau flammte ein Licht auf und sie trat in den Tunnel. Er war gerade mal so breit, dass zwei Menschen nebeneinandergehen konnten. Michelle warf einen Blick über die Schulter. Kenar und Damaris hatten die Nachhut übernommen. Erneut hörte sie das Heulen der Hyänenmenschen, die scheinbar ihren Artgenossen zuriefen: Kommt her, hier ist unsere Beute. Sie eilten durch den Tunnel und erreichten ein schwarzes Tor, das von einem Totenschädel verschlossen wurde. Tejon streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. Lautlos öffneten sich die Torflügel nach innen, kalte Luft schlug ihnen entgegen und Michelle bemerkte ein undeutliches bläuliches Glimmen.
„Es ist Wahnsinn, dort hineinzugehen!“, rief Gavin schrill, während Imena, ohne zu zögern, die sogenannte Unterwelt betrat.
„Aluka oder die Geister der Toten“, sprach Tejon. „Triff deine Entscheidung schnell.“
Ängstlich schaute der Satyr zurück. Im Gang hallten Schritte.
„Komm schon, Gavin“, sagte Michelle und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie und sie gingen durch das Tor, das sich hinter ihnen schloss.

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