Pheria 1 – Verhängnisvoller Zauber – Das Jagdhorn

Es war der erste schöne Samstag im Frühling und Michelle radelte den Weg entlang. Während ihr weißes Kleid im Fahrtwind flatterte, schaute sie sich lächelnd um. In den Gärten blühten gelbe und weiße Narzissen und dicke Hummeln suchten nach Nektar.
Die Brücke kam in Sicht und am Weg hinunter zum Fluss schwang sich Michelle vom Rad. Selbst wenn er nicht so unübersichtlich gewesen wäre, hätte sie es bevorzugt zu gehen, denn er war nicht nur sehr steil, sondern auch holprig. Der Sand knirschte unter ihren Rädern und Schuhsohlen und sie bemerkte, dass die Brückenpfeiler mit neuen Graffitis besprüht worden waren. Sie wusste, dass es unter den Sprühern richtige Künstler gab, aber dies waren einfach nur Schmierereien.
Als Michelle Nick am Ufer sah, machte ihr Herz einen Satz. Wie üblich trug er eine schwarze Lederjacke und eine schwarze Jeans, allerdings hatte er sich diesmal für ein weißes, eng anliegendes Shirt entschieden. Er beugte sich gerade über seine Gepäcktasche und sein schwarzes Haar fiel ihm in die Augen, was Michelle etwas Zeit gab, sich zu sammeln.
Wieso reagierte ihr Körper so, obwohl sie wusste, dass sie keine Chance bei ihm hatte? Sie konnte ihre Gefühle gut unterdrücken, wenn er eine Freundin hatte, aber da seine Beziehungen nur zwei bis drei Monate hielten und er momentan solo war … Reiß dich zusammen, dachte sie. In einigen Tagen hat er wieder eine bildschöne Brünette mit langen Haaren und Beinen an seiner Seite und dein Herz träumt nicht mehr von dummen Dingen.
Noch nie war Nick mit einem blonden Mädchen ausgegangen und Michelle wusste nicht, ob sie das trösten sollte. Wenn sie schlau war, würde sie ablehnen, falls irgendwann ein Wunder geschähe und er Interesse an ihr zeigte, denn sie glaubte nicht daran, dass es mit ihr anders wäre. Manchmal hatte sie sogar das Gefühl, als Kindheitsfreundin etwas Besonderes zu sein.
Sie schüttelte den Kopf, um die widersprüchlichen Gedanken zu vertreiben. Ein paar Enten näherten sich dem Ufer in der Hoffnung gefüttert zu werden. Leise quakend machten sie auf sich aufmerksam und Nick schaute auf.
„Glaubt ihr, dass ihr beim zweiten Versuch mehr Glück habt?“
Rasch setzte Michelle ein Lächeln auf, bevor Nick auf die Idee kam, dass die Enten wegen eines Neuankömmlings herbeigeschwommen waren.
„Hallo Nick“, grüßte sie ihn und er drehte sich um.
„Ah, du hast sie angelockt, Michelle. Ich hab ein neues Objektiv dabei, das ich testen möchte. Toll, dass du das weiße Kleid angezogen hast. Du siehst fabelhaft darin aus.“
Seine blauen Augen leuchteten vor Vorfreude und sie lächelte, während sie ihre Strickjacke zurechtzupfte. So war es fast immer, wenn er sie bat, sein Fotomodel zu sein. Michelle brachte, etwas zu essen mit, und er hatte in seiner Tasche eine Kamera mit einem Monsterobjektiv.
„Brauchst du eine Pause?“, fragte er sie, „oder wollen wir gleich los?“
„So unsportlich bin ich auch wieder nicht“, gab sie zurück.
Sie stiegen auf die Räder und fuhren in das Naturschutzgebiet, dennoch musste man jederzeit damit rechnen, dass ein freilaufender Hund plötzlich um eine Biegung schoß, besonders so früh am Morgen. Als sie die Strecke erreichten, bei der Uferweg für einige Zeit fast gerade verlief, entspannte Michelle sich, genoss die Frühlingsluft und hielt Ausschau, ob sie einen blau schimmernden Flecken über die Wasseroberfläche hinwegfliegen sah. Zwar entdeckte man hier selten Eisvögel, weil sie weiter flussabwärts lebten, jedoch war die Freude umso größer, wenn sich einer der bunten Vögel blicken ließ. Bislang hatte sie kein Glück, dafür sah sie zwei balzende Haubentaucher, die die Köpfe mal abwechselnd und mal gleichzeitig schütteln. Zwischendurch strichen sie sich durch das Gefieder, als wären sie plötzlich verlegen.
„Das ist ein guter Platz“, meinte Nick.
Vor ihnen verbreitete sich der Abschnitt zwischen Fluss und Uferweg zu einer kleinen Wiese, auf der eine verwitterte Bank ohne Lehne stand. Im letzten Jahr war der Baum links von ihr umgestürzt und rottete nun, halb im Schilf verborgen, vor sich hin. Auf der rechten Seite erhob sich eine Esche und Moos bedeckte großflächig ihren Stamm.
Sie hielten an und Michelle fragte: „Möchtest du zuerst frühstücken? Ich habe mit Käse und Salami belegte Brötchen dabei.“
„Nein, das Licht ist gerade super. Schau doch mal, wie toll das Lichtspiel auf der anderen Uferseite in den Blättern ist. Das wird ein wunderschönes Bokeh ergeben. Stell dich bitte dort an das Ufer. Behalte die Strickjacke erst einmal an, aber öffne die Knöpfe, und trag die Handtasche auf der rechten Seite.“
Während Nick die Kamera aus der gepolsterten Tasche nahm und sich die Schlaufe umhängte, ging Michelle auf den gezeigtem Platz und knöpfte die Jacke auf. Sie beobachtete, wie Nick die Kamera einstellte und den Deckel vom Objektiv abnahm. Als er durch den Sucher schaute, atmete sie kurz durch und lächelte. Obwohl Nick sie schon lange fotografierte, dauerte es immer eine Weile, bis sie sich entspannte.
„Was hast du morgen vor?“, fragte Nick, um ihr dabei zu helfen.
„Lernen, wir schreiben eine Mathematik-Klausur.“
„Oh Mann, bin ich froh, dass ich das für immer hinter mir habe.“ Nick lächelte breit. „Momentan könnte es nicht besser laufen. Ich habe in drei Wochen einen Auftrag für eine junge Moderatorin, die du bestimmt kennst. Ich muss zugeben, ich bin etwas aufgeregt, wenn ich an den Termin denke. Meine Follower freuen sich übrigens auf neue Bilder von dir.“
Verlegen strich sie sich eine ihrer Locken zurück und hörte, wie Nick den Auslöser betätigte.
„Das war super. Du bist so süß, wenn du verlegen bist, aber es ist Frühling und wir könnten etwas verspielter werden. Stell dich hinter den Baum und schau um den Stamm. Leg die Hand ganz sanft auf das Moos. Ja, genau. Bleib so.“ Er ging in die Knie, um sie aus einer anderen Perspektive zu fotografieren, dann deutete er auf den umgestürzten Baumstamm.
„Kletterst du bitte darauf?“
Der mit Moos bewachsene Stamm war breit genug, dass sie nicht balancieren musste. Nachdem Michelle so tun sollte, als wäre es anders, sollte sie sich drehen, damit ihr Kleid um sie herumwirbelte. Plötzlich rutschte sie ab und stürzte. Ein kurzer Schmerz durchfuhr sie, denn sie war auf etwas hartem gelandet.
„Bist du in Ordnung?“, fragte Nick.
Sie bejahte und stand auf, dabei fiel ihr Blick auf ein weißes Jagdhorn, das mit Schnitzereien verziert war. Verblüfft so etwas zu finden, hob sie es auf und betrachtete es genauer. Die detailreichen Schnitzereien zeigten Zentauren, die gegen Werwölfe kämpften. Nein, die rundlichen Ohren und die Kopfform passten nicht zu einem Wolf. An der Öffnung schimmerten Saphire. Auch wenn Michelle sich nicht mit Edelsteinen auskannte, glaubte sie, dass sie echt waren – oder jemand hat sich große Mühe gegeben, das künstliche Aussehen zu vermeiden. Wie war so etwas Wertvolles hierher gekommen?
„Das ist ja cool. Scheint, dass wir ein Requisit haben. Setz es mal an die Lippen.“
„Bist du verrückt?“
„Tue nur so.“
Sie hielt es einige Zentimenter vor ihrem Mund und hatte auf einmal das Bedürfnis, hineinzublasen. Der Ton war hell und die Saphire glühten auf. Um sie herum erschienen Lichtfunken und sie konnte sich weder bewegen noch das Horn loslassen. Immer zahlreicher und größer wurden die Lichtfunken, sogar unter ihren Füßen und über ihren Kopf leuchteten sie.
„Michelle!“, rief Nick und lief zu ihr.
Das Licht schloss sich um sie beide und Michelle hatte das Gefühl, dass sich die Lichtkugel nach unten bewegte, dann änderte sie die Richtung. Nick ließ sie los, um die Lichtwand zu berühren.
„Das ist ja abgefahren. Undurchsichtig und hart wie Glas.“
Etwas stieß gegen sie und die Lichtkugel trudelte einen Moment wie ein Kreisel, bevor sie scheinbar raketenähnlich emporschoss. Plötzlich brach sie in zwei Teile und Michelle wurde gegen die Wand geschleudert. Entsetzt bemerkte sie, dass sich Nick in der anderen Hälfte befand.
Auch auf seinem Gesicht erkannte sie einen Moment Sorge, bevor er rief: „Alles in Ordnung, Michelle. Wir -“ Der Rest des Satzes endete in einem langgezogenen überraschten Schrei, denn seine Kugelhälfte stürzte ab.
Vorsichtig kroch sie an den Rand. Unter ihnen breitete sich nicht der Fluss aus, sondern ein strahlend blaues Meer. Nicks Hälfte tauchte ins Wasser ein. Das Horn, das sie immer noch in der Hand hielt, glühte schwach und die Kugelhälfte kippte, so dass sie über sich den wolkenlosen Himmel sah, dann schloss sich die Öffnung. Sie spürte, wie sich die Halbkugel taumelnd wie ein Verletzter weiter fortbewegte. Hoffentlich war Nick in Ordnung. Wohin wurde sie gebracht?
Endlich hielten sie an und ihr seltsames Transportmittel löste sich auf. Michelle zog scharf den Atem ein, denn vor ihr stand eine Frau, die aussah, als wäre sie eine zum Leben erwachte Statue. Sie hatte keine Haare, aber eine ausgesprochen hübsche Kopfform und ihre Augen schimmerten wie Milchopal.
Michelles Finger ließen das Horn los und es fiel in den weichen Sand. Links von ihr rauschte das Meer. Was war geschehen?, fragte sie sich, aber sie brachte kein Wort heraus.
„Beruhige dich, mein Kind, wir tun dir nichts, sondern sind gekommen, um dich zu empfangen. Das sind Kenar, Gavin, Chalina, Tejon, Damaris und Gheran. Mein Name lautet Imena.“
Ihr Unglauben, dass das alles wirklich geschah, wuchs, denn Kenar war ein Zentaur. Lange, braune Haare fielen ihm auf muskelbepackte Schultern. Auch der Rest des Oberkörpers hätte einem Bodybuilder gehören können und sie bemerkte beunruhigt, dass er auf dem Rücken ein Schwert trug. Gavin dagegen war ein Satyr, kaum größer als ein Kind. Sein menschlicher Oberkörper ging ab dem Bauchnabel in den Leib einer schwarzen Ziege über.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, während Michelles Blick weiter wandte zu einer wunderschönen Frau, die sie freundlich anlächelte. Ihre Augen waren grün und sie trug ihr blondes Haar locker zurückgebunden im Nacken. Das ärmellose, kurze Kleid offenbarte lange, schlanke Beine und wohlgeformte Arme.
Michelle drehte sich um und erblickte einen Mann, der einen schwarzen Kapuzenumhang trug und sein Gesicht hinter einer Maske verbarg. Selbst Tejons Hände steckten in enganliegenden Lederhandschuhen, als wollte er keinen Zentimeter seiner Haut der Sonne aussetzen.
Wie ein Gegenstück wirkte Damaris, der in eine weiße, kurzärmelige Tunika gekleidet war. Um seine Unterarme waren Bandagen gewickelt und an seinem Gürtel hingen zwei Kurzschwerter. Wo war der letzte Mann? Gheran? Als sie sich dem Meer zuwandte, entdeckte sie einen grauhaarigen Kopf. Rasch schaute sie weg, denn sie wollte nicht sehen, ob er einen Fischschwanz statt Beine hatte. Ihr war unwohl, weil diese seltsamen Gestalten einen Kreis um sie bildeten.
„Wie ist dein Name?“, fragte Imena, nachdem Michelle Zeit hatte, jeden zu mustern.
„Ich bin Michelle. Wie bin ich hierher gekommen?“
„Das Jagdhorn hat dich hergebracht.“
„Enthält es noch Magie?“, fragte Tejon.
Imena kam auf sie zu und Michelle wich zurück. Beim Näherkommen schimmerte die Oberfläche der Steinfrau wie ein quarzhaltiger Granit, allerdings in einen ungewöhnlichen bläulichen Ton. Als Imena das Horn aufhob, bemerkte Michelle, dass einer der Saphire fehlte.
„Nein.“
Der Zentaur trat näher und streckte fordernd die Hand aus. Ohne Zögern gab Imena Kenar das Horn und Michelle hörte, wie er scharf die Luft einsog.
„Bei Dsura, mein Onkel wird toben, wenn er sieht, was mit dem Horn passiert ist. Die Fassung ist nicht einmal beschädigt. Wie konnte der Saphir herausfallen?“
„Die Frage kann ich dir nicht beantworten,“ antworte Imena, während Kenar sich das Horn umhängte.
Komm schon, reiß dich zusammen, sagte Michelle sich und holte ihr Smartphone aus der Handtasche, aber es gab keinen Empfang. Sie blickte auf das Wasser. Von der anderen Lichtkugel war nichts zu sehen. Vermutlich hatte sie sich bereits aufgelöst und Michelle hoffte, dass Nick nicht allzuweit von der Küste entfernt war.
„Können wir nicht verschwinden?“, fragte Gavin. „Ihr wird diese Magie nicht entgangen sein.“
„Michelle“, sprach Imena sie an, „es wird Zeit zu gehen. Komm bitte mit uns.“
„Nein, ich muss Nick suchen. Von wo kam die Lichtkugel?“
„Du warst nicht alleine? Was ist geschehen?“
„Ich glaube, die Kugel ist irgendwo gegengestoßen und kurze Zeit später in zwei Teile gebrochen. Nick ist mit der anderen Hälfte ins Meer gestürzt.“
Imena drehte den Kopf zum Wasser.
„Gheran, kannst du versuchen, ihn zu finden?“
„Ich bin schon unterwegs.“
Der Mann tauchte unter und einen Augenblick erschien eine silberne Fischflosse. Michelle wollte den Strand entlang laufen, um nachzuschauen, ob Nick ihn vielleicht bereits erreicht hatte, doch Imena ergriff ihr Handgelenk.
„Warte, in dieser Richtung liegt Alukas Reich.“
„Wer ist Aluka?“
„Eine mächtige Dämonin, die am Beginn der Welt geboren wurde.“
Während Imena sie losließ, zwinkerte Michelle verblüfft. Nach Zentauren, Satyren und Wassermänner auch noch eine Dämonin? In ihren Augen war es nur ein weiterer Grund, sofort nach Nick zu suchen.
„Ich werde ihn trotzdem suchen gehen.“
Sie rannte an Imena vorbei, aber Kenar versperrte ihr den Weg.
„Lass das.“
Michelle spürte, wie ihr warm wurde.
„Bin ich eure Gefangene?“
„Nein“, sagte Imena sanft, „aber wir wollen nicht, dass dir etwas geschieht. Du weißt nicht, was dich in dieser Welt erwartet.“
Sie schaute auf den Fleck, an dem Gheran verschwunden war. Sollte sie wirklich nur abwarten? Nein, sie konnte Nicks Schicksal nicht einfach in die Hände Fremder legen, sondern musste selbst etwas tun.
„Dann sagt es mir bitte. Worauf muss ich achten?“
Ein schrilles Fiepen aus der Richtung, in die sie gewollt hatte, ertönte und Michelle fuhr zusammen. Auf dem Sand bemerkte sie mehrere braune Flecken. Rasch kamen sie näher.
„War ja klar, dass unser Glück nicht anhalten würde“, murmelte Gavin.
„Sollen wir versuchen zu fliehen?“, fragte Chalina, die geräuschlos neben Imena getreten war. „Wir sind nicht im Vollbesitz unserer Kräfte.“
„Das ist typisch für Wesen, die der Magie zu sehr vertrauen“, meinte der Zentaur und zog sein Schwert. „Ich bin bereit, zu kämpfen!“
Michelle gelang es nicht, ein überraschtes Keuchen zu unterdrücken. Das Schwert erschien ihr riesig.
Damaris stellte sich neben Kenar. „Ich werde dir beweisen, dass man Elementare nicht unterschätzen sollte.“
Imena zog Michelle neben Chalina und trat dann einige Schritte vor ihr.
„Tejon, du bildest mit mir die zweite Verteidigungsreihe. Gavin, Chalina, ihr beschützt Michelle. Weicht ihr nicht von der Seite.“
„Verstanden“, sagte Chalina und aus den Handgelenken der schlanken, elfenhaften Frau wuchsen dornenbewehrte Ranken.
Michelle warf einen Blick auf Gavin, der zu ihnen geeilt war, aber er besaß keine versteckte Waffe. Seine Haltung war geduckt und es schien ihr, als hätte er genauso viel Angst wie sie.
Die Flecken entpuppten sich als Ratten, die größer als Hirtenhunde waren. Mit einem Schreien empfing der Zentaur die Nagetiere und erschlug sie, Damaris bewegte sich wie ein Tänzer zwischen ihnen. Nicht nur seinen beiden Schwertern schienen die Ratten zum Opfer zu fallen. Zwei Mal machte er eine Handbewegung auf eine Ratte, die an ihnen vorbei geschlüpft war, und diese brach zusammen, bevor sie Imena und Tejon erreichen konnte.
Nach einer Weile lagen ihre Angreifer, etwa fünfzehn Nager, tot am Boden und Michelle spürte, wie sie erschauderte. Sie hätte keine Chance gegen diese Tiere gehabt.
„Lasst uns verschwinden, bevor Schlimmeres auftaucht“, flüsterte Gavin.
„Ich kann Nick doch nicht in Stich lassen!“ Michelle fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen. Als Kenar, Damaris, Imena und Tejon auf sie zu traten, rief sie: „Bitte rettet ihn!“
„Würdest du ihn alleine suchen gehen?“, fragte Kenar sie.
Entschlossen nickte sie und im nächsten Moment warf der Zentaur sie über die Schulter.
„Kenar!“, rief Imena.
„Wenn sie so unvernünftig ist, müssen wir so handeln.“
„Nein, wenn ein zweiter Mensch hier ist, müssen wir ihn retten“, meinte Chalina. „Wenn wir das Floß holen, kannst du die Magie der Kugel erspüren, Damaris?“
Michelle wandte den Kopf, um dem weißblonden Mann in das Gesicht zu sehen.
„Ja, aber die Fährte wird stetig schwächer und vermutlich haftet an dem anderen Menschen wenig Magie. Oder hat er das Horn ebenfalls berührt?“
„Vielleicht unabsichtlich, als wir in der Kugel waren.“
„Wir haben keine Zeit für so etwas“, widersprach Kenar.
„Ich stimme zu“, meinte Tejon.
Imena sagte: „Nein, wir machen es so, wie Chalina vorgeschlagen hat.“
Fluchend setzte Kenar Michelle ab und sie wich ein paar Schritte von ihm zurück.
„Es ist nicht weit“, sagte Chalina. „Siehst du die Flussmündung hinter uns? Dort haben wir unser Floß versteckt.“
Hoffentlich lügen sie mich nicht an, dachte Michelle, während sie über den Sand eilten. An der Flussmündung bildeten Bäume und Sträucher ein dichtes Dickicht. Hastig räumten sie die Zweige weg und das Floß kam zum Vorschein. In der Mitte gab es ein ausgehöhltes, etwa einen halben Meter hohes Rohr und eine einfache U-förmige Sitzbank. Dass sie das Floß versteckt hatten, beunruhigte Michelle. Alukas Reich lag in der anderen Richtung und Tiere interessierten sich nicht dafür. Mit welchen Gegner hatten sie es noch zu tun?
„Warum habt ihr es verborgen?“
„Im Gegensatz zu Aluka verlassen ihre Kreaturen ihr Gebiet.“
Ihre Kreaturen? Michelle bevorzugte keine weiteren Fragen zu stellen, sondern half das Floß ans Wasser zu schieben. Kenar, Damaris und Chalina liefen zum Gebüsch zurück und kamen mit einem schlanken, aber grob gehauen Mast sowie einem Segel zurück. Nachdem sie es an den Mast gebunden hatten, wurde dieser aufgerichtet. Der Wind blähte das Segel.
„Minar ist mit uns“, sagte Damaris lächelnd.
Imena wandte sich an Kenar.
„Du musst als Erstes gehen.“
Unwillig schlug der Zentaur mit dem Schweif, stand aber wenige Augenblicke später auf dem Floß. Nachdem Imena ihm gefolgt war, zogen sie es ins Wasser und kletterten hinauf.
„Lass mich das Segel handhaben, dann kannst du dich auf die Fährte konzentrieren“, sagte Chalina und Damaris nickte.
Bevor sie parallel zum Strand segelten, entfernten sie sich etwas von der Küste. Währenddessen ließ Michelle sie nicht aus den Augen. Wie würde Nick handeln? Hatte er gesehen, wohin ihre Hälfte verschwunden war? Hoffentlich war er nicht ins Landesinnere gegangen. Die Idee nach einer magischen Fährte zu suchen, die sie nicht sehen konnte, kam ihr auf einmal nicht mehr schlau vor.
„Ich habe die Spur“, sagte Damaris und befahl Chalina, das Segel leicht schräg zu stellen.
Noch immer konnten sie den Strand sehen und Michelle war erleichtert, dass sie keine weiteren Riesenratten entdeckte, aber nach einiger Zeit stiegen ihr Tränen in die Augen. Die Reise in der Lichtkugel hatte nur wenige Minuten gedauert.
„Wir hätten ihn schon längst finden müssen.“
Imena schüttelte den Kopf.
„Magische Reisen sind dazu da, dass man innerhalb weniger Augenblicke woanders ankommt.“
„Wie weit ist Nick von uns entfernt?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich hatte erwartet, dass ihr bei uns erscheint und nicht über dem Meer.“
An der Küste erhob sich nun ein dunkler Wald und aus irgendeinem Grund erschauderte Michelle. Obwohl sie viele Shootings in Wäldern gehabt hatte, wirkte dieser unfreundlich und gefährlich.
„Ihr seid doch verrückt“, murmelte Gavin vor sich hin. „Bestimmt haben uns schon einige Späher gesehen.“
„Hör auf, wie ein Ziegenbock zu blöken.“
Sie entfernten sich weiter von der Küste, auch wenn diese sich in der Ferne zum Meer hinbog. Auf Damaris Gesicht bemerkte Michelle einen konzentrierten und gleichzeitig erschöpften Ausdruck. Plötzlich öffnete er die Augen.
„Hier muss die Kugel in zwei Hälften gebrochen sein.“
Michelle blickte zur Küste, die vielleicht 500 Meter weit weg war, aber davor gab es einen Bereich, in dem Felsen aus dem Wasser ragten. Hoffentlich hatte Nick sie erreicht.
„Eine zweite Fährte geht da entlang“, sagte Damaris mit müder Stimme, „und da kommt Gheran!“
Die untergehende Sonne begann das Meer rot zu färben, während sie sich aufeinander zu bewegten.
„Hast du etwas von ihm entdeckt?“
„Nein, ich bin bis zum Felsenufer geschwommen.“
„Die magische Spur führt dahin. Kannst du uns hindurch führen?“
Der Wassermann nickte und Tejon warf ihm das Seil zu, während Chalina das Segel einholte. Es wurde dunkel. Als die Felsen vielleicht noch zehn Meter entfernt waren, sagte Damaris: „Tut mir leid, ich habe die Spur verloren. Mein Sinn, Magie zu erspüren, ist ganz taub.“
Gheran wand den Kopf nach links, als sähe er im Dunkeln etwas.
„Wir sind zum Glück außer Sichtweite von Alukas Steg.“
„So nah sind wir ihr?“, fragte Gavin mit schriller Stimme und ein strenger Geruch nach Streichelzoo stieg Michelle in die Nase.
„Das ist nicht der Augenblick, die Nerven zu verlieren. Was man nicht sehen kann, kann man noch immer hören“, flüsterte Tejon.
„Oder riechen.“ Die Stimme des Zentauren klang etwas boshaft.
„Gavin, lass dich nicht verängstigen. Der Wind kommt vom Land her.“
„Wir sind etwa 15 Manneslängen von der Küste entfernt“, sagte Gheran. „Ich schlage vor, dass ihr den großen Felsen dort als Deckung nutzt und dann zwei oder drei auswählt, die zur Küste schwimmen, um dort den anderen Menschen zu suchen.“
„Auswählen?“ Kenars Stimme klang tief. „Mag sein, dass es schlau es, so vorzugehen, aber sprich nicht von Auswählen.“
„Damaris“, sagte Imena, „glaubst du, dass du kämpfen und mit Chalina und Tejon gehen kannst?“
„Ja.“
In diesem Moment stieß das Floß gegen den Felsen, der sich wie ein großer Elefant aus dem Meer erhob, und die drei Auserwählten ließen sich ins Wasser und schwammen fort.
„Du solltest versuchen etwas zu schlafen“, sagte Imena.
„Ich kann nicht.“
Angestrengt lauschte Michelle, doch sie hörte nur das Rauschen der Wellen, die das Floß leicht schaukelten. Obwohl Gheran regelmäßig abtauchte, ging das leise Plätschern in der Brandung unter.
„Sie haben deinen Freund gefunden“, sagte Gheran, als er wieder einmal an die Oberfläche kam.
Aufgeregt stand sie auf. Leider versperrte der Felsen ihr die Sicht und vermutlich hätte sie nicht viel gesehen, weil es dunkel war. Rechts von ihnen hörte sie Plätschern. Damaris war als erstes wieder am Bord und blieb in der Hocke, um die Hand auszustrecken, doch Nick ignorierte sie und zog sich selbst auf das Floss.
„Nick“, flüsterte Michelle und warf die Arme um seinen Hals.
„Michelle, du bist wirklich hier.“
Ihr traten Tränen in die Augen. „Ich hatte schon befürchtet, du wärst -“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin so froh, dass es dir gut geht.“
„Das ist mein Text“, meinte er.
„Können wir aufbrechen?“, flüsterte Gavin.
„Nichts hält uns mehr hier“, sagte Imena. „Wurdest du verletzt?“
„Nein, mir geht es gut.“
„Er lag bewusstlos am Strand“, sagte Damaris.
„Unglaublich, was er für ein Glück hatte“, fügte Tejon hinzu. „Das Meer hat ihn zwischen zwei eng beieinanderliegende Felsen gespült, so dass er von der Küste aus nicht zu sehen war.“
Während Gheran sie auf das Meer zog, stellte Michelle ihm die anderen vor.
„Warum sind wir auf diesem Floss? Wohin sind wir unterwegs?“
„Setzt euch“, forderte Imena sie auf.
Als Michelle und Nick nebeneinander auf der Sitzbank Platz nahmen, spürte sie, wie sie schlagartig müde wurde.
„Ich kann verstehen, dass es dir unangenehm ist, wieder auf dem Meer zu sein, aber wir müssen zu einer Insel. Wir werden sie gegen Mittag erreichen.“
„Ich bin euch dankbar, dass ihr euch um Michelle gekümmert habt, doch warum sollen wir euch begleiten?“
Michelle spürte, wie ihre Augenlider schwerer wurden und sie an Nicks Schulter sank. Der Schreck darüber wirkte wie ein winziger Schluck Espresso.
„Tut mir leid, Nick.“
„Das ist in Ordnung.“ Er legte den Arm um sie. „Ich will nicht, dass du von der Bank kippst.“
Michelle lehnte sich gegen ihn und schloss die Augen.
„Lass uns morgen weiter sprechen“, sagte Imena. „Deine Freundin ist erschöpft.“
„Also schön.“
Sie sank in einen traumlosen Schlaf. Zwischendurch glaubte sie, einmal wachzuwerden und Kenar sagen zu hören: „Sie ist nicht das, was wir erwartet haben.“
„Magie hat ihren eigenen Willen.“
Der Zentaur schnaubte.
„Oder etwas ist schiefgelaufen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie unsere Welt retten kann.“
„Sie ist alles, was wir haben.“
Ein komischer Traum, dachte Michelle, bevor sie mit dem Schlüssel in der Hand vor ihrer Haustür stand. Aus irgendwelchem Grund öffnete sie hastig die Tür und rief nach ihrer Mutter.
„Was ist denn, Schatz?“, fragte diese und trat auf den Flur.
Erleichtert umarmte Michelle sie. Warum war sie so beunruhigt gewesen? Es war alles in Ordnung.

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