Leseprobe – Amazonenprinzessin

Die Nacht der zwei Schwerter
In der großen Halle des Tempels der Kriegsgöttin Isen war es dunkel und es herrschte vollkommene Stille. Leandra lauschte den Atemzügen der anderen zehn Mädchen und fragte sich, was sie gerade dachten. Schworen sie bereits Isen die Treue oder sahen sie sich als siegreiche Heldinnen aus einer Schlacht kommen? Leandra unterdrückte ein Seufzen, damit die anderen nicht merkten, dass sie sich nicht auf ihre Aufgabe konzentrierte.
In dieser Nacht sollten sie sich innerlich auf die letzte Phase ihrer Ausbildung als Kriegerinnen vorbereiten und Leandra ärgerte sich, dass es ihr nicht gelang, mit dem Willen Isens zu verschmelzen. Isen war die einzige Göttin der Amazonen und schon als kleines Kind hatte sie gelernt, wie man die Kriegsgöttin ehrte. Leandra schloss die Augen. Sie fühlte sich wie eine Lügnerin. In drei Monaten würde sie siebzehn Jahre alt werden und noch nie hatte sie die Liebe zur Göttin wirklich gefühlt.
Vom langen Knien taten ihre Beine weh, aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie war die Tochter der Königin der Amazonen und musste den anderen ein Vorbild sein. Eigentlich sollte die Prinzessin die verwegenste und stärkste der Gruppe sein. Rechts hinter ihr ertönte ein leises Schnarchen und Leandra ahnte, von wem es stammte. Von der liebenswerten Chloe. Sie wünschte, sie hätte die Schlafende wecken können, doch auch das war verboten.
Der Weihrauch machte Leandra ebenfalls müde, aber jedes Mal, wenn sie drohte einzuschlafen, dachte sie daran, dass wenige Schritte vor ihr die Statue der Isen stand. Die Vorstellung, dass sie umkippen könnte, holte sie schnell wieder in die Gegenwart zurück. Die Prinzessin fragte sich, wann die Hohepriesterin käme, um die Zeremonie zu beginnen. Die Nacht musste bald vorbei sein. Schuldgefühle überkamen Leandra. Ihre Gedanken sollten der Kriegsgöttin gelten, doch am liebsten wäre sie weit weg.
Trommeln ertönten und kamen näher. Leandras Herzschlag beschleunigte sich. Unwillkürlich begann ihr Handrücken zu jucken. Sie ignorierte es. Ich werde nicht schreien, wenn sie mir mein Zeichen in die Haut brennen, schwor die Prinzessin sich.
Abrupt verstummten die Trommeln, dann schwangen die großen Flügeltore auf und zwei Fackeln spendeten den Raum ein wenig Licht. Leandra blinzelte, denn nach der langen Zeit im Dunkeln sah sie nur, wie Schatten an den Wänden der Halle Stellung bezogen. Natürlich konnten es nur die Trommlerinnen sein und sie richtete den Blick auf den Eingang.
Ein weiterer Trommelwirbel erhob sich, als die Hohepriesterin der Isen begleitet von zwei Priesterinnen eintrat. Während ihr Gefolge in schwarze, schlichte Kleider gehüllt war, trug Ciara ein außergewöhnliches Gewand, welches zwar auch überwiegend schwarz war, aber geschickte Näherinnen hatten zusätzlich einen glänzenden, roten Stoff eingearbeitet. Er umfing die Taille wie ein Gürtel und verlief von der rechten Hüfte bis zur linken Schulter. Wie eine Wunde von einem mächtigen Schwerthieb, dachte Leandra und erschauderte leicht.
Die Hohepriesterin trat vor die Statue der Isen und hob die Arme.
„Willkommen im Tempel der Isen, Töchter von Tehuna. Erweist der Göttin die Ehrung, die ihr zu steht, und lauscht meinen Worten.“
Leandra beugte sich vor, sodass ihre Stirn den Boden berührte. Der Stein war kalt und rau und die Trommeln setzten wieder ein.
„Heute ist Tehuna das Land der Amazonen, doch einst gehörte es den Vohranern. Die Vohraner versklavten als Erstes andere Menschen und sie waren für ihre Grausamkeit bekannt. Für einen kleinen Fehler konnte ein Sklave sein Leben verlieren, aber besonders grausam waren die Vohraner zu ihren Frauen.“ Ciara machte eine Pause. „Ich werde euch die Geschichte von Adina erzählen.
An einem sonnigen Herbsttag ging Mirad, der Fürst der westlichen Provinz, mit seinem Gefolge auf die Jagd, aber sie fanden keine Fährte. Das gesamte Wild schien sich in Luft aufgelöst zu haben, und als sie am Abend ihr Lager aufschlugen, betranken sie sich.
„Wo sind die Viecher bloß alle hin?“, brummte Mirad und ergriff den Arm seiner Schwester Adina, als sie ihm Wein einschenkte. „Was meinst du?“
„Ich weiß nicht.“
„Sag schon! Oder soll dich meine Peitsche fragen?“
Seine Begleiter fingen an zu lachen und Adina senkte den Blick.
„Vielleicht, weil Ihr in den letzten Jahren zu viele Tiere erlegt habt.“
„Verdammt, womöglich hast du recht. Ich erlege sie schneller, als sie geboren werden.“
„Wenn keine Tiere da sind, könnten wir Menschen jagen“, schlug einer seiner Freunde vor.
„Eine Menschenjagd? Welch prächtige Idee!“, rief der Fürst begeistert und betrachtete die langen Beine seiner Schwester. „Von allen meinen Dienerinnen kannst du am schnellsten laufen, also wirst du unser Jagdwild sein.“
Adina nahm die Worte ihres betrunkenen Bruders nicht ernst, doch am nächsten Morgen sagte er nach dem Frühstück zu ihr: „Wir geben dir einen Vorsprung von drei Stunden.“
„Mirad, ich bin deine Schwester! Selbst du-“
Der Fürst schlug sie zu Boden.
„Verschwinde, bevor ich die Hunde auf dich hetze.“
Erschüttert stand Adina auf und floh in den Wald. Was sollte sie nur tun? Plötzlich stolperte sie über den Saum ihres Kleides und fiel hin. Hastig riss Adina es an den Seiten auf, sprang auf und lief weiter.
Nach einiger Zeit konnte sie nicht mehr, Adina ließ sich gegen einen Baum fallen und rang keuchend um Luft. Da hörte sie das Gebell der Jagdhunde. Weiter. Sie musste weiter, aber nach wenigen Schritten gaben ihre Beine unter ihr nach. Die Hunde näherten sich, dann sprangen sie gefolgt von ihren Führern aus dem Gebüsch.
„Bitte lasst mich gehen“, bat Adina, doch die Männer befahlen den Hunden sie einzukreisen. Wenig später kamen ihr Bruder und seine Freunde angeritten.
„Das war ja eine erbärmliche Jagd“, sagte Mirad und zielte mit der Armbrust auf sie. Adina schloss die Augen. Ihr Bruder sprach weiter: „Komm schon, gib dir mehr Mühe, Adina.“
Sie öffnete die Lider und sah zu Mirad hoch, der sie anlächelte.
„Vielleicht wird etwas Schmerz dich anspornen.“
Der Bolzen drang in ihren linken Arm ein und sie schrie auf, während die Hunde vor Blutgier jaulten und von den Männern festgehalten werden mussten.
Adina biss die Zähne zusammen und lief weiter. Ja, der Schmerz gab ihr neue Kraft, aber was half es ihr? Sie hatte keine Möglichkeit, ihrem Bruder zu entkommen. Da erreichte sie einen besonderen Teil des Rothan-Waldes, wo die Blätter noch nicht rot waren, sondern im satten Grün leuchteten. Adina wusste sofort, dass dies eine geweihte Stätte der Göttin Isen war. Verzweifelt betrat sie den Ort und bat die Göttin um Schutz. An der Quelle ließ Adina sich nieder und trank einige Schlucke Wasser. Wie wunderschön es hier ist, dachte sie und wünschte sich, sie könnte in diesem Wald in Frieden leben.
„Du hast dir einen schönen Ort zum Sterben ausgesucht“, hörte sie Mirad sagen.
Adina hob den Kopf und sah, dass er auf ihr Herz zielte. Seltsamerweise verspürte sie keine Angst mehr.
„Ist diese Frau nicht deine Schwester?“, fragte eine Stimme, die aus den Baumkronen zu kommen schien.
„Und wenn schon? Sklaven und Weiber sind dazu da, ihren Herren zu dienen.“
„Du achtest meinen heiligen Ort nicht, weil auch ich weiblich bin?“
„Ihr habt keine Macht über mich.“
„Das ist wahr, aber diese Frau hat um meinen Schutz gebeten, und ich werde ihn ihr gewähren.“
Isen verwandelte Adina in eine weiße Hirschkuh, die schnell wie der Wind in den nächsten Büschen verschwand.
„Hinterher!“, schrie Mirad und die Vohraner nahmen die Verfolgung wieder auf.
Die Göttin rief ihm nach: „Versuche sie zu erlegen, und genieße deine Macht, solange du sie noch hast.“
Mirad und sein Gefolge fanden keine Spur von der weißen Hirschkuh, und sobald der Fürst den Wald verlassen hatte, vergaß er die Worte der Göttin. Ungesehen von menschlichen Augen stieg Isen in Gestalt eines Falken aus den Baumkronen hinauf und folgte dem Jagdtrupp, bis sie das erste Feld erblickte. Dort sah sie Sklaven hart arbeiten, kaum verheilte Wunden von Peitschenhieben verunstalteten ihre Rücken und der Aufseher zögerte nicht, ihnen neue beizubringen, wenn sie ihm zu langsam waren. Sie drehte ab, doch auf den anderen Feldern erging es den Menschen nicht anders.
In der Nacht lief sie als Fuchs durch die Straßen einer Stadt und hörte Weinen, Schmerzensschreie und grausames Gelächter. Die Vohraner quälten ihre Frauen aus Spaß, so wie Mirad aus einer Laune heraus seine eigene Schwester gejagt hatte. Entsetzt stieg Isen in den Himmel, um mit ihrem Vater zu sprechen. Isidor erklärte ihr, dass die Vohraner nicht mehr den Kriegsgott Manesh verehrten, sondern den finsteren Vishan die Treue geschworen hatten. Sie sahen seine Geschöpfe – die Dämonen – als Wesen höchster Freiheit an und schienen diesen nacheifern zu wollen. Isen schwor sich, den Einfluss Vishans auf Tehuna zu brechen, und machte sich sogleich auf die Suche nach einem Menschen, der diese Aufgabe erfüllen konnte. Sie erwählte das elfjährige Mädchen Khalida. Obwohl sie die Tochter eines Adeligen war, war ihre hohe Geburt ohne Bedeutung für die Vohraner. Ihr Schicksal wäre es gewesen, einen Mann zu heiraten, um ihm zu dienen und Kinder zu gebären, aber Isen sandte ihr eine Vision und entfachte damit ein Feuer des Widerstandes in ihr. Noch in derselben Nacht lief Khalida davon und verkleidete sich als Junge, um in die Kriegerschar aufgenommen zu werden. Sie trainierte hart und mit siebzehn galt sie als bester Schwertkämpfer der nördlichen Provinz, während sie heimlich eine Truppe aus Frauen zusammenstellte.
Beim Versuch, ein wildes Pferd zu zähmen, stürzte der König der Vohraner und brach sich den rechten Arm. Da nach dem Gesetz ein Krüppel nicht herrschen konnte, wurde das Ritual der Schwerter ausgerufen. Derjenige, der alle Gegner im Zweikampf besiegte, sollte der neue König werden. Khalida nahm an diesen Kämpfen teil und bezwang einen Krieger nach dem anderen.
Nachdem sie gekrönt worden war, nahm sie den Harnisch ab und sagte: „Seht her, der mächtigste Krieger von Tehuna ist eine Frau und ich werde allen Sklaven die Freiheit zurückgeben.“
Weil Khalida das Ritual der Schwerter gewonnen hatte, schworen einige Vohraner ihr Gehorsam. Viele jedoch wollten nicht einer Frau dienen und die geheime Armee der Königin bekam die Gelegenheit, sich zu beweisen. Sie schlug den Widerstand in wenigen Wochen nieder, wobei sie auch von den Sklaven unterstützt wurde.
Königin Khalida erschuf eine neue Gesellschaft, die bis heute Bestand hat. Es gibt keine Sklaven mehr und den Männern ist es verboten, Krieger zu werden.“ Die Trommeln schienen die Worte der Hohepriesterin direkt in Leandras Körper zu übertragen und sie wurden immer lauter. „Wir werden nie vergessen, was damals geschehen ist, und wir werden niemandes Sklaven mehr sein.“ Dieser Satz hallte noch lange durch die Halle und die Prinzessin stellte fest, dass sie am ganzen Körper zitterte. Aus dem Augenwinkel warf sie einen Blick auf Tessa und war erleichtert, dass sich diese im gleichen Zustand befand.
Als es still geworden war, sagte Ciara: „Erhebt euch, Töchter von Tehuna.“
Obwohl ihre Beine von langer Bewegungslosigkeit steif waren, gelang es Leandra, geschmeidig aufzustehen. Die Augen der Hohepriesterin richteten sich auf sie.
„Prinzessin Leandra, komm zu mir.“
Sie gehorchte. Während die Hohepriesterin die Geschichte erzählt hatte, hatte jemand einen kleinen Tisch bereitgestellt. Leandras Blick streifte das darauf liegende Werkzeug. In einem goldenen, mit Rubinen besetzten Kelch schimmerte die Säure. Sie wurde aus dem Ghunla-Baum gewonnen, der damit seine Früchte schützte. Daneben lagen eine lange Zange und zwei Plättchen. Das eine zeigte zwei sich kreuzende Schwerter, das zweite die beiden Schwerter mit einem Pferdekopf darüber.
Da Leandra die Thronfolgerin war, griff Ciara mit der Zange das zweite Zeichen und tauchte es in die Säure. Leandra streckte die rechte Hand aus und die Hohepriesterin presste das Plättchen auf die Haut. Die Säure brannte wie Feuer, doch die Prinzessin blieb ihrem Schwur treu. Weder kam ein Laut über ihre Lippen noch verzogen sich ihre Gesichtszüge vor Schmerz.
Ciara nickte zufrieden und Leandra stellte sich neben das Tischchen. Nacheinander wurden auch die anderen aufgerufen, dann war Chloe an der Reihe. Leandra spürte, wie sie sich anspannte. Die etwas rundliche Amazone war ihre einzige richtige Freundin und sie sah deutlich, dass Chloe Angst hatte. Weil ihre Hand zitterte, hielt eine andere Priesterin sie fest. Wenig später hallte ein schriller Schrei durch die Halle und Tränen liefen Chloe übers Gesicht.
„Du musst den Tempel verlassen“, sagte die Hohepriesterin. Chloe nickte nur, drehte sich um und verließ den Raum. Oh, Chloe, dachte Leandra traurig und wäre ihr am liebsten nachgelaufen.
Ciara wandte sich ihnen zu.
„Eine Amazone muss ihren Körper und ihre Gefühle beherrschen. Heute habt ihr bewiesen, dass ihr Schmerzen aushalten könnt, Gefühle sind bei Weitem schwerer zu bezwingen.“ Sie machte eine Pause. „Übermorgen beginnt der Unterricht. Nun geht auf eure Zimmer und denkt über diese Nacht nach.“
Als Prinzessin hatte Leandra einen Raum für sich am Ende des Ganges, zunächst ging sie aber in Chloes Kammer, um sich zu verabschieden. Isen sei dank, waren Chloes Zimmergenossinnen noch nicht da. Leandra sah überrascht, dass ein Bündel auf dem Bett lag.
„Du hast gar nicht ausgepackt“, erkannte sie.
Chloe versuchte zu lächeln.
„Ich bin nicht dazu geschaffen, Schmerzen und Entbehrungen zu ertragen.“
Sie umarmten sich, dann löste sich Chloe von ihr und sah Leandra ernst an.
„Lass dich nicht unterkriegen.“
„Das wird schwer“, antwortete Leandra und dachte: Vor allem, weil du nicht da bist.
„Im Herzen bist du stärker als all die anderen.“
„Manchmal redest du Unsinn“, sagte Leandra. Seit sie Chloe das Leben gerettet hatte, war sie ihre Heldin.
„Nein, ich erinnere mich genau an diesen Tag. Damals waren wir erst acht Jahre alt und deine Mutter hatte zwei Wildpferde einfangen lassen. Du hast Balima so schnell gezähmt und Tessa und die anderen sagten, ich wäre zu feige, sie zu reiten. Ich war so dumm. Nur weil ich gesehen hatte, dass sie ganz brav bei dir war, dachte ich, ich könnte das ebenfalls. Aufsteigen ließ Balima mich, doch dann spielte sie verrückt. Mit einem Satz war sie über den Zaun und galoppierte mit mir davon. Ich hätte mir das Genick brechen können, aber zufällig kamst du rechtzeitig hinzu und nahmst das Pferd deiner Mutter. Ihr habt uns eingeholt und du sprangst hinter meinen Rücken. Balima war plötzlich wie ausgewechselt und hielt an. Leandra, ich habe deine Augen gesehen. Voller Mut und Kraft. Ich sah in die Augen eines Menschen, der sein eigenes Leben für andere riskiert.“
Leandra konnte nichts sagen und Chloe lächelte aufmunternd.
„Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns ja wieder, wenn du eine richtige Kriegerin geworden bist.“
Sie umarmten sich erneut, danach beobachtete Leandra, wie Chloe ihr Bündel ergriff und ging. Nach einer Weile suchte Leandra ihr Zimmer auf, wo sie sich aufs Bett warf. Eigentlich hätte sie müde sein müssen, aber die Prinzessin war hellwach und es hätte sich auch nicht gelohnt. Bald riefe man sie zum Frühstück.
Als der Gong erschallte, war sich Leandra bewusst, dass nun eine schwierige Zeit begann. Sie wartete einige Herzschläge ab, dann stand sie auf und öffnete die Tür. Die anderen Amazonen waren schon gegangen und Leandra war froh darüber. Sie wäre nicht in der Lage gewesen, sich spöttische Bemerkungen über Chloe anzuhören. Das Schlimmste war, dass gerade diese Amazonen eines Tages ihre nächsten Untergebenen wären. Doch welche Kriegerin würde einer Königin folgen, die es nicht wagte, einen Feind eigenhändig zu töten? Die Prinzessin schüttelte diesen Gedanken ab. Das lag noch in der Zukunft, für heute wäre sie froh, wenn sie kein Schwertkampf machen musste, denn die Göttin Isen wurde nicht mit Gesängen, sondern mit klirrenden Schwertern geehrt.
Leandra erreichte den Saal. Zum Glück saß die Hohepriesterin noch nicht auf ihren Platz am erhöhten Steintisch. Die anderen Tische waren in Form eines Hufeisens angeordnet, um die Mitte für den rituellen Schwerttanz freizulassen. Rasch setzte Leandra sich. Keinen Augenblick zu früh, Ciara trat ein.
„Der Göttin des Krieges gefällt es, wenn der Tag mit einem Kampf beginnt“, sagte Ciara, nachdem sie Platz genommen hatte. „Wer möchte ihr diese Freude machen?“
Leandra hielt den Atem an, als sie sah, dass Tessa sich sofort meldete. In ihren dunkelbraunen Augen brannte ein herausforderndes Feuer. Sie war die beste Schwertkämpferin ihrer Altersgruppe und sie mochte Leandra nicht.
„Deine Ausbilderin Farina lobt deine Fertigkeiten mit dem Schwert.“ Ciara lächelte. „Dein Tanz wird die Göttin sicher erfreuen.“
„Gegen wen soll ich kämpfen?“, fragte Tessa.
„Wähle selbst. Beachte aber, dass nur ein Kampf gegen einen ebenbürtigen Gegner ehrenwert ist.“
Die junge Amazone errötete und forderte Emira auf, mit ihr zu kämpfen. Die beiden gingen in die Mitte des Saales und bekamen von einer Priesterin zwei Schwerter. Tessa griff sofort an und Leandra musste zugeben, dass sie manchmal neidisch auf Tessa war, die sich katzengleich bewegte. Die Prinzessin beobachtete den Kampf. Emira hatte die seltene Gabe, die Bewegungen ihres Gegners vorauszuahnen, aber ihre Schwäche war ihre Ausdauer. Tessa reizte sie immer wieder mit schnellen Angriffen, bis Emira der Schweiß auf der Stirn stand, um dann im richtigen Moment die Verteidigung zu durchbrechen. Die Schwertspitze verharrte kurz vor der Schulter. Damit war der Kampf zu Ende. Die beiden verbeugten sich voreinander und kehrten auf ihre Plätze zurück.
„Isen ist zufrieden“, sagte die Hohepriesterin und diese Beurteilung war gleichzeitig die Erlaubnis, mit dem Frühstück anzufangen.
Diesmal war Leandra davon gekommen, doch drei Monate waren eine lange Zeit. Die Prinzessin griff in den Brotkorb. Das Brot war weich und duftete herrlich. Erst jetzt merkte sie, dass sie einen riesigen Hunger hatte. Schließlich war das Frühstück beendet und Ciara befahl ihnen, auf ihre Zimmer zurückzukehren. Als Leandra aufstand, kam eine Priesterin zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr, dass sie zu der Hohepriesterin kommen sollte. Überrascht sah Leandra zu Ciara, die blickte sie nicht einmal an. Schnell ging sie zu dem erhöhten Tisch und neigte den Kopf.
„Hohe Ciara.“
„Prinzessin Leandra, ich möchte, dass du mit mir die Rituale durchführst. Zieh das Gewand an, das in deinem Zimmer bereitliegt.“
Zuerst war Leandra sprachlos, dann bedankte sie sich. Es war eine große Ehre der Hohepriesterin Ciara zu helfen, und sie beeilte sich zu ihrem Zimmer zu kommen, doch Tessa wartete im Gang.
„Hat die ehrenwerte Ciara dich ermahnt, weil sie die Angst in deinen Augen gesehen hat?“, fragte sie und lächelte kalt.
Leandras Lächeln wurde noch eine Spur freundlicher.
„Jetzt nicht, die Hohepriesterin wartet auf mich.“
Das Grinsen verschwand und Tessa ging davon. Zu gern hätte sie Leandra geärgert, aber wenn sie es nun tat, wäre es eine Beleidigung Ciaras und damit der Göttin gewesen.
Wie angekündigt lag auf ihrem Bett ein schwarzes Gewand und Leandra zog es an. Der Stoff fühlte sich kalt an und die Prinzessin spürte Unbehagen aufsteigen. Reiß dich zusammen, das ist nur ein Kleidungsstück, dachte sie und ging zum Altarraum, vor dem Ciara bereits wartete. Die Hohepriesterin musterte Leandras Erscheinung.
„Das weiße Gewand einer Novizin steht dir besser als dieses, doch vielleicht liegt das an deiner Jugend. Nimm die Fackel.“
Sie betraten den Raum und Leandra zündete die beiden Fackeln neben der Statue an, dann kehrte sie an Ciaras Seite zurück. Zum ersten Mal konnte Leandra die Hohepriesterin vom Nahen betrachten. Obwohl sie schon über vierzig Jahre alt war, wirkte ihr bleiches Gesicht seltsam alterslos. Weder Schmerz noch Freude hatten ihre Spuren hinterlassen, sodass es langweilig gewesen wäre, wären nicht diese hellblauen Augen, die Macht ausstrahlten.
„Knie mit mir vor dem Altar.“
Leandra gehorchte und spürte, wie ihr Herz auf einmal schneller schlug.
„Beschützerin der Amazonen, deine Kriegerinnen leben nach deinem Vorbild“, sprach Ciara und nahm den roten Stoff beiseite, der den Altar bedeckte. In dem untersten Fach lag kein gewöhnliches Schwert, sondern ein reich verzierter Krummsäbel – eine Waffe, mit der man hinrichtete. Als die Hohepriesterin nicht nach dem Krummsäbel griff, wurde Leandra klar, dass sie ihn nehmen sollte. Vorsichtig, als wäre er zerbrechlich, hob sie ihn mit beiden Händen aus dem Fach. Plötzlich spürte die Prinzessin Ciaras Berührung an ihrer Taille, sie sollte aufstehen. Leandra erhob sich und Ciara legte die Arme unter ihre, sodass sie gemeinsam das Schwert emporhoben, um es der Göttin anzubieten.
Dicht an ihrem Ohr sagte Ciara: „Große Isen, auf deinen Wunsch hin bringen wir Tod und Blut.“
Leandra überlief ein Schauer. Das klang grausam und sie war froh, als sie den Krummsäbel wieder zurücklegten und nach einer Verneigung den Raum verließen.
„Was hattest du?“, fragte die Hohepriesterin.
Sie konnte es nicht aussprechen und Ciara sagte: „Du hast sehr starke Gefühle.“
Leandra erwiderte nun den Blick.
„Ich werde sie zu beherrschen lernen.“
„Gut, denn starke Gefühle weisen auf ein starkes Herz. Was wirst du mit dieser Kraft machen? Wirst du sie nutzen oder wirst du dein ganzes Leben lang vor ihr davonlaufen?“
Die Prinzessin antwortete nicht. Chloe hatte gesagt, sie wäre stark, nun behauptete die Hohepriesterin etwas Ähnliches.
„Was, glaubst du, ist das am schwersten zu besiegende Gefühl?“
„Angst“, flüsterte Leandra.
„Nein, Zweifel. Angst macht wachsam und gibt Kraft, aber Zweifel fressen dich auf. Geh jetzt und denke über diese Worte nach.“
Leandra kehrte in ihr Zimmer zurück und legte sich auf das Bett. Wenn es in ihr eine Kraft gab, dann hoffte sie, dass sie sie bald fand.

Die Sonne war schon vor zwei Stunden untergegangen und noch immer tobte draußen ein Gewitter. Timor, der im Sessel seines Vaters saß, unterdrückte ein Seufzen. Diese Nacht würde er wieder schlecht schlafen. Warum mussten sie auch am Fuße des Asol-Gebirges wohnen? Hier begannen die Sommergewitter zuerst und endeten spät im Herbst. Seinen Vater machte der Krach nichts aus, Timor dagegen hasste den prasselnden Regen und konnte kein Auge zutun.
Er schaute zum Fenster, als es donnerte. Kaum 100 Meter entfernt war der Blitz eingeschlagen und hatte einen Baum im Brand gesetzt, aber das Feuer wurde schnell vom Regen ertränkt. Er hoffte, dass sein Vater einen trockenen Unterschlupf gefunden hatte, und ging zum Kamin, um Holz nachzulegen.
Da klopfte es an der Tür. Wer war bloß bei diesem scheußlichen Wetter unterwegs? Timor erhob sich und öffnete die Tür. Vor ihm stand ein bärtiger Mann, der mindestens drei Köpfe größer war, obwohl Timor mit siebzehn schon fast ausgewachsen war.
„Hallo, Junge, bist du alleine?“
Die Stimme des Fremden klang schnarrend und Timor überlegte, was er sagen sollte. Sicher hatte er vor dem Klopfen durch die Fenster geschaut.
„Momentan ja, mein Vater kommt morgen früh wieder.“
„Ich hoffe, du hast keine Angst vor mir.“
„Nein“, sagte Timor so bestimmt wie möglich und der Mann grinste.
„Gut, wie du siehst, regnet es in Strömen.“
Timor wünschte, er hätte den Fremden einfach wegschicken können, doch der schien so kräftig, dass ihm keine geschlossene Tür standhalten konnte, also ging Timor zur Seite.
„Oh, verzeiht, kommt bitte herein.“
Er trat ein, und Timor schloss die Tür hinter ihm. Seinen Mantel ließ der Mann einfach fallen und schritt zum Kamin, wobei er die Holzdielen verschmutzte.
„Du kannst mich Halvar nennen. Wie ist dein Name?“
„Timor.“
„Hast du etwas zu essen, Timor?“
Wahrscheinlich würde Halvar sich etwas mit Gewalt holen, wenn er ihm nichts gab, also brachte Timor ein kaltes Schnitzel, das der Fremde mit wenigen Bissen hinunterschlang.
„Ein bisschen wenig, aber ich bin sowieso eher müde als hungrig. Dein Vater wird nichts dagegen haben, wenn ein müder Mann in seinem Bett schläft.“
Bestimmt hat er etwas dagegen, wenn ein dreckiger Bandit es sich in seinem Bett bequem macht!, dachte Timor, dennoch nickte er zustimmend. Vielleicht konnte er Halvar im Schlaf überwältigen.
Es dauerte auch nicht lange, bis ein lautes Schnarchen aus dem Schlafzimmer seines Vaters kam. Timor wartete einige Zeit ab. Anscheinend ließ sich der Mann von dem Gewitter nicht stören.
Timor stand auf und holte sich ein Seil. Vorsichtig schlich er ins Schlafzimmer. Halvar war tatsächlich mit nasser Kleidung und Stiefeln ins Bett gegangen! Der junge Mann unterdrückte seine Wut und näherte sich Halvar.
„Komm her, meine Süße“, murmelte dieser und seine Arme schlangen sich um das Kissen. Wie praktisch, dachte Timor und fesselte sie. Zu seiner Erleichterung wurde der Mann nicht wach. Schnell ging er ans Fußende und band noch die Füße zusammen.
Timor unterdrückte einen Seufzer. Jetzt konnte er Halvars Sachen untersuchen. Sie lagen gleich neben der Tür und Timor hob den Beutel hoch. Er war ziemlich schwer, neugierig nahm er ihn mit in die Wohnstube. Ein Holzscheit knackte und Timor fuhr zusammen. Ruhig, dachte er, das ist nur das Feuer. Er öffnete den Beutel und der Griff eines Schwertes ragte ihm entgegen. An seinem Knauf war ein Stier eingeritzt worden. Dieser Mann musste ein Erbe der Vohraner sein! Aufgeregt legte er das Schwert zur Seite und suchte weiter. Unter Kleidungsstücken fand er zwei Amazonen-Dolche. Soviel Timor wusste, nahmen die Erben der Vohraner sie von getöteten Amazonen als Siegestrophäen. Der eine Dolch hatte gewiss einer adeligen Amazone gehört, denn er hatte einen vergoldeten Griff, während der andere sehr schlicht war.
Timor nahm seinen Mantel und versteckte die Waffen darunter. Er musste die Dorfälteste unterrichten. Leise öffnete er die Tür. Noch immer war es ungemütlich, doch ein Mörder schlief unter seinem Dach, und wer weiß, ob er nicht bald aufwachte? Zum Glück war es nicht allzu weit zum Dorf. In keinem Haus brannte Licht und Timor klopfte zaghaft an Asparas Tür. Keine Reaktion. Er klopfte lauter und nach einer Weile rief eine Stimme: „Was ist da draußen los?“
„Aspara, es tut mir leid. Es ist ein Notfall.“
Die Tür öffnete sich und Aspara sah ihn müde an.
„Was ist passiert?“
„In unserem Haus ist ein Erbe der Vohraner.“
„Ein Erbe der Vohraner? Das ist kein dummer Jungenstreich, oder?“
„Nein, schaut her.“ Er gab ihr das Schwert und den wertvollen Dolch.
„Das ist wirklich ein Schwert dieser Mörderbande und dieser Amazonendolch gehörte einer Adeligen. Vor zwei Wochen wurde das Dorf Aia überfallen, dabei wurde die Adelige Fatara getötet.“ Sie seufzte. „Die Amazonen haben eine Truppe ausgeschickt, die fünf Männer einfing. Dieser ist wohl entkommen. Er ist in deinem Haus, sagtest du?“
„Ja, ich habe ihn gefesselt, während er schlief, aber vielleicht kann er sich befreien.“
„Dann sollten wir sofort handeln. Weck bitte Samura und Thina.“
Timor gehorchte und war überrascht, dass die alte Aspara ebenso schnell abmarschbereit war wie die beiden jungen Amazonen. Er führte sie zu seinem Haus und sie stellten fest, dass der Räuber noch immer schlief. Aspara musterte den schlafenden Halvar kalt.
„Ungehobelt wie jeder Erbe der Vohraner. Weckt ihn.“
Samura ging zu Halvar und stieß ihn an.
„Wach auf, du Mörder.“
„Was?“ Er fuhr auf und sah sich verwirrt um. „Was geht hier vor?“
„Wir wissen, wer du bist. Komm mit uns, wir bringen dich ins Dorf.“
„Das werdet ihr nicht!“ Er spannte die Muskeln an und Aspara stellte sich vor Timor, doch die Fesseln hielten.
„Gut verschnürt“, meinte Thina und die beiden Amazonen rissen ihn hoch.
Halvar versuchte sich loszureißen, da trat ihn Thina in den Magen.
„Verdammte Amazone“, stieß er hervor, dann sah er Timor hasserfüllt an. „Das wirst du bereuen, Junge.“
„Raus mit ihm“, befahl die Dorfälteste. Nachdem Halvar hinausgeführt worden war, legte Aspara ihm eine Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen wegen seiner Worte. Dieser Mann wird wahrscheinlich morgen früh hingerichtet.“
„Ich fürchte mich nicht!“, widersprach er.
„Du warst sehr mutig und hast klug gehandelt, Timor.“
Aspara wünschte ihm eine gute Nacht, dann folgte sie den drei. Timor verriegelte die Tür und ging zum Fenster. Die vier Menschen waren schon in der Dunkelheit verschwunden. Plötzlich fiel Timor ein, dass er Aspara nicht den zweiten Dolch gegeben hatte. Wie konnte er das vergessen? Er zog ihn hervor und ihm wurde warm ums Herz. Den Dolch würde er behalten – als Entschädigung für diese Nacht und als Erinnerung.

Der nächste Tag brach an und die Prinzessin hatte wieder Glück. Emira wollte noch einmal gegen Tessa kämpfen und zu Leandras Freude gewann sie auch. Nach dem Frühstück führte die Priesterin Maja sie in den Garten, wo sich ein kleines Gebäude befand.
„Hier findet der Unterricht statt“, sagte Maja. „Folgt mir.“
Sie gingen hinein und Leandra war zunächst überrascht, dass die Statue der Isen mit dem Rücken zu ihnen stand und zum Fenster hinausblickte. Dann verstand sie warum: Isen hatte mit den anderen Göttern gebrochen und sollte nicht sehen, was hier passierte.
Maja ging zum Podest und stellte sich hinter dem großen Tisch, auf dem dicke Bücher lagen.
„Setzt euch“, befahl die Priesterin. Nachdem alle an den einzelnen Tischen Platz genommen hatten, fuhr sie fort: „In den nächsten zwölf Wochen werde ich euch das Wissen der Mendarner vermitteln, damit ihr auch in diesem Land zurechtkommt. Wir haben es so lange nicht angesprochen, damit euer Glaube an Isen fest ist und ihr nicht wankelmütig werdet.“
Leandra hatte das Gefühl, dass die anderen Amazonen ihr Blicke zu warfen.
„Wir beginnen mit der Götterwelt. Isen ist die Tochter des Himmelsgottes Isidor und der Erdgöttin Endora.“ Leandra hörte nicht richtig zu. Sie kannte die Geschichte bereits von dem Seher Enos, der aus Mendarn stammte. In Mendarn ehrte man alle zehn Götter. Nun eigentlich gab es elf, doch der Elfte war der üble Vishan.
„Prinzessin Leandra, träumt Ihr?“ Maja stand vor ihrem Tisch und sah sie streng an.
„Nein.“
„Dann sagt mir, wie das Land der Roten Nebel entstand.“
Leandra erhob sich.
„Der Vater aller Götter Isidor bestimmte Tejun zum Herrn der Unterwelt. Darüber war Vishan wütend, denn er war der älteste Sohn. Also erschuf er Dämonen und eroberte einen Teil der Unterwelt. In diesem Krieg erhob sich das Asol-Gebirge und die Erde riss auf, sodass Dämonen und Toten der Unterwelt entkamen. Um die Welt zu retten, spannten die zehn Götter einen magischen Nebel um den Ort. Die bösen Wesen sind noch immer dort gefangen und man nennt dieses Gebiet das Land der Roten Nebel.“
„Sehr gut, allerdings habe ich über das Land der Roten Nebel nichts gesagt.“
Leandra errötete und setzte sich wieder. Von nun an hörte sie zu. Die Priesterin erzählte von Ivar, Isens Zwillingsbruder, der meistens schlief, weil er von der Zukunft träumte, von Kiran, dem Herrn der Pferde und Maya erwähnte gerade die schöne Liebesgöttin Sadira, als die Glocke zum Mittag rief. Die Priesterin entließ sie und die jungen Amazonen gingen in Richtung Speisesaal. Sie hatten ihn fast erreicht, da stellten sich Tessa und ihre drei Freundinnen vor Leandra auf.
„Geht mir aus dem Weg“, bat Leandra höflich, doch Tessa schüttelte den Kopf.
„Was machst du, wenn ich es nicht tue?“
„Dann wird wohl das Essen kalt werden.“
Verächtlich verzog Tessa den Mund und zischte: „Du bist ein Feigling.“
Diese Beleidigung durfte die Prinzessin nicht einfach überhören. Tessa war zwar adelig, aber nicht vom königlichen Geblüt!
„Wie kannst du es wagen, so mit deiner zukünftigen Königin zu reden?“
„Dass du jemals regieren wirst, bezweifele ich.“
„Wie meinst du das?“
„Deine Familie herrscht so lange, weil sie stets stark war, dennoch besteht immer noch das Recht, die Königin zum Zweikampf zu fordern.“
„Ach, willst du mich fordern?“
„Ich glaube nicht, dass das passiert, denn es gibt zwei andere Möglichkeiten.“ Tessa machte eine bedeutungsvolle Pause. „Deine Mutter könnte dich auch verbannen oder verstoßen. In Mendarn findest du sicher einen Mann, der dich beschützt. Schließlich bist du schön und dort spielt es keine Rolle, ob eine Frau feige ist.“
Einen Moment war Leandra wie erstarrt, dann schoss sie hervor. Zorn war immer ein schlechter Begleiter, Tessa hatte nur darauf gewartet. Mühelos wich sie aus und stellte Leandra ein Bein. Die Prinzessin fiel und Gelächter erhob sich. Ein am Boden liegender Gegner ist noch kein besiegter, dachte Leandra. Blitzschnell trat sie Tessa die Beine weg, sodass sie neben ihr stürzte.
„Nette Aussicht von hier unten, nicht wahr?“ Leandra lächelte zuckersüß und Tessa wurde knallrot.
„Du!“
Die Amazone packte sie am Kragen und holte zum Faustschlag aus.
„Auseinander!“ Die Stimme war wie ein Peitschenhieb und ließ Tessa innehalten. Im nächsten Moment war die Priesterin Maya da, um sie zu trennen.
„Was ist hier los?“, verlangte Maya zu wissen.
Belia, Tessas beste Freundin, antwortete: „Wir wollten nur den Kampfgeist der Prinzessin wecken.“
„Ihr beide kommt mit.“ Die Priesterin führte Leandra und Tessa zu Ciara, deren Augen funkelten, als sie die Geschichte hörte.
„Was glaubt ihr, was ein Tempel ist? Eine Taverne, in der man sich prügelt, wenn man verschiedener Meinung ist? Von zwei adeligen Amazonen hatte ich mehr erwartet. Während ich über eine angemessene Bestrafung nachdenke, wartet ihr auf euren Zimmern.“
Schweigend gehorchten die beiden. Leandra warf sich auf das Bett und starrte die Wand an. Meine Mutter würde mich nie verstoßen, dachte sie. Dann richtete die Prinzessin sich auf und schaute auf ihr Zeichen, das noch immer schmerzte. Die anderen Amazonen fieberten ihrer Bewährungsprobe entgegen, doch Leandra fürchtete sich vor dem Tag. Der Tod eines Feindes machte eine Amazone erst zu einer richtigen Kriegerin. Die einzigen Feinde, die sie hatten, war eine Gruppe, die sich Erben der Vohraner nannte. In Wirklichkeit waren sie nur Räuber und Mörder, die wehrlose Dörfer überfielen und sich danach in den Wäldern versteckten.
Immer wieder hatte die Prinzessin sich das Ereignis vor Augen gerufen und auch jetzt versank sie in der Erinnerung.
Vor sechs Monaten wollten ihre Ausbilderin Farina und Leandra jagen gehen. Farina hatte gewettet, dass sie zuerst einen Hirsch erlegen würde. Die Prinzessin hatte die Wette angenommen, also hatten sie sich getrennt. Schnell fand sie eine Spur und folgte ihr. Als die Fährte in die Nähe einer Straße führte, hörte sie eine Stimme rufen: „Lasst mir wenigstens etwas.“
Leandra näherte sich den Geräuschen und sah hinter der nächsten Biegung, wie zwei Männer einen Händler bedrohten.
„Wie leichtsinnig durch den Wald zu fahren“, spottete einer der Räuber.
Leandra musterte die Umgebung, aber sie entdeckte keine weiteren Banditen. Es wurde Zeit, zu handeln. Sie legte einen Pfeil auf die Bogensehne.
„Gebt ihm auf der Stelle sein Geld zurück!“, rief sie.
Die Männer fuhren herum und fingen an zu lachen, als sie Leandra sahen.
„Wir lassen uns von keiner Frau etwas sagen – und von so einem jungen Ding wie dir erst recht nicht.“
„Hüte deine Zunge.“
„Wir sind nicht so wie die Männer, die du kennst.“
Sie ließ die Sehne los und der Pfeil schlug wenige Zentimeter neben der Schläfe des einen Räubers ein.
„Gut zielen kann sie“, murmelte dieser und der andere Mann zog den Geldbeutel hervor.
„Was hältst du von einem kleinen Zweikampf? Der Sieger erhält das Geld.“
„Du kannst keine Siegprämie vergeben, die dir nicht gehört.“
„Momentan ist das Geld in meinen Besitz, außerdem darf eine Amazone keine Herausforderung ausschlagen.“
„Ich glaube nicht, dass die Herausforderung von einem Räuber bindend ist.“
„Ich bin kein Räuber, kleine Kriegerin. Ihr habt uns unser Land gestohlen und der Ehre wegen fordere ich dich heraus.“
Langsam ließ sie den Bogen sinken.
„In Ordnung.“
Leandra legte ihre Sachen ab, während der Mann sein Schwert zog, dann nahm sie ihren Kampfstab.
„Mit diesem Zahnstocher willst du mich besiegen?“
Er vollführte einen Ausfall und Leandra schlug ihm die Beine weg.
„Gib ihm die Geldbörse wieder“, sagte sie.
„Nicht so schnell.“ Der andere Räuber sprang sie von hinten an und legte einen Riemen um ihren Hals. Sie griff mit der linken Hand hinein, bevor er ihn ganz zuziehen konnte.
„Ich werde dich erwürgen, kleines Biest.“
„Ja, zeig es ihr.“ Der andere Mann stand auf. „Ich will sehen, wie sich ihr Gesicht blau färbt.“
Ein Horn erschallte in der Nähe und Leandra erkannte am Ton, dass es ihr eigenes war. Der Händler musste es genommen haben.
„Verdammt, bring ihn zum Schweigen. Mit ihr werde ich schon alleine fertig.“
Unwillig gehorchte er und verschwand. Das war ihre Chance, aber der Vohraner war so stark. Der Riemen zog sich immer mehr zusammen. Sie tastete nach ihrem Amazonendolch und stach ihm ins Bein. Endlich war sie frei und wirbelte herum, um ihren Gegner in den Bauch zu treten. Er fiel auf den Rücken und Leandra ließ sich über ihn fallen. Ihr Dolch zielte auf seine Kehle.
„Ich bin nicht so leicht zu besiegen“, keuchte sie.
Jetzt hätte sie ihn töten müssen, dennoch tat Leandra es nicht. Natürlich hatte er ihr Zögern bemerkt und schlug sie zu Boden.
„Was ist, Kleine? Hast du noch nie getötet? Ich zeige dir, wie es geht.“
Er nahm ihren Dolch, doch mitten in der Bewegung verharrte er und fiel zur Seite. Aus seinem Rücken ragte ein Pfeil, Farina kam angelaufen und fragte sie, ob sie in Ordnung wäre.
Leandra stöhnte leise und ließ sich zurück auf die Matratze sinken. Wenn Farina nicht da gewesen wäre, wäre sie nun tot. Warum hatte sie diesen Mann nicht getötet? Er war ein gemeiner Mörder und verdiente zu sterben. Leandra strich sich das dunkle Haar aus dem Gesicht. Vielleicht würde sie niemals einen Menschen das Leben nehmen können. Was sollte sie nur tun? Die Prinzessin wünschte, sie könnte mit Enos sprechen. Der Seher schaffte es immer wieder, ihr Mut zu machen. Aber natürlich! Sie würde ihn fragen.
Es war verboten, während der Vorbereitungszeit den Tempel der Isen zu verlassen, also musste Leandra warten, bis es dunkel war. Leise klopfte es an der Tür.
„Ja?“
Priesterin Maya trat ein.
„Die Hohepriesterin Ciara ist ausgesprochen erbost über den Vorfall.“
„Das verstehe ich und es tut mir leid. Seid Ihr gekommen, um mir meine Strafe mitzuteilen?“
Maya seufzte.
„Heute werdet ihr nichts mehr zu essen bekommen, außerdem sollt ihr diese beiden Texte auswendig lernen. Das ist der Unterrichtsstoff für heute Nachmittag und dies-“ Maya gab ihr einige Blätter, „ist ein Gedicht über die Göttin Sadira.“
„Ein Gedicht?“
„Ja, es hat fünf Seiten.“
Leandra überflog den Text, so etwas hatte sie noch nie gelesen. Haare wie goldener Regen und liebliche Gestalt, wer benutzte solche Ausdrücke?
„Ist das alles?“
„Vorerst.“
Die Priesterin ging und Leandra lernte die beiden Texte, bis es Nacht wurde. Dann stand sie auf und hob den Deckel der Truhe an, in der ihre normale Kleidung lag. Rasch wechselte die Prinzessin das auffällig weiße Gewand gegen Lederhose, Lederstiefel und braunes Hemd. Leise öffnete sie die Tür. Es war niemand zu sehen, und Leandra huschte durch die Gänge in den Garten.
Nahe der Mauer erhob sich eine kräftige Eiche, an der sie hochklettern konnte, aber sie brauchte ein Seil, um wieder in den Tempel zu kommen. Die Amazonenprinzessin sah sich um, und als ihr Blick beim Brunnen hängen blieb, kam ihr eine Idee. Der Eimer stand auf einem Baumstumpf und Leandra löste das Seil vom Henkel. Vorsichtig zog sie daran, um den Strick von der Winde zu lösen. Zum Glück befand sie sich im guten Zustand und knarrte nicht. Noch einmal sah Leandra sich um, dann ging sie zum Baum und kletterte hinauf. Sie knotete das Seil um einen Ast und ließ sich in die Gasse runter. Das war geschafft. Die Gasse endete in der breiten Hauptstraße, welche geradewegs zum Palast führte. Leandra war erleichtert, es waren keine Personen mehr unterwegs, trotzdem ging sie in die entgegengesetzte Richtung. Die hohe Palastmauer hätte sie nicht überwinden können. Sie kannte jedoch einen unterirdischen Gang außerhalb der Stadt. Weil die Tore von Tehu bewacht waren, sprang sie in den Kanal, der die Stadt mit Wasser versorgte, und schwamm bis zur Mauer, wo ein Gitter den Weg nach draußen versperrte. Wie viele Menschen wussten wohl, dass es nicht ganz bis zum Grund reichte? Leandra holte Luft, tauchte hinab und schlüpfte durch den Spalt. Sie war froh, als sie auf der anderen Seite wieder aus dem Wasser steigen konnte. Tagsüber war es angenehm, nachts dagegen waren die Flüsse ziemlich kalt.
Die Prinzessin ging weiter. Vor sechs Jahren hatte ihre Mutter ihr den Geheimgang gezeigt. Er war unter Gestrüpp verborgen und abgestandene Luft schlug ihr entgegen. Leandra ließ sich in die Öffnung gleiten und hörte, wie Ratten vor ihr flohen. Obwohl sie keine Angst vor den Nagetieren hatte, ekelte sie sich vor ihnen. Hier sollte man ein paar Katzen auf die Jagd schicken, aber Königin Neria kümmerte sich nicht um die Pflege des Geheimganges. Allein die Vorstellung, sie könnte von einem Feind flüchten, empfand ihre Mutter als lächerlich.
Der Gang endete und Leandra befand sich im Garten des Palastes. So sollte ein Garten aussehen, dachte die Prinzessin. Die Amazonen hatten fast alles, was als weiblich galt, abgelegt. Nur ihre Großmutter hatte diese Tradition nicht beachtet und diesen Garten anlegen lassen. Selbst in der Nacht verströmten die Rosen einen herrlichen Duft und im Tageslicht war die Farbenpracht schön anzusehen. Hör auf zu träumen, ermahnte Leandra sich. Die Gemächer des Sehers Enos lagen im Erdgeschoss auf der rechten Seite. Eins der Fenster stand offen, so bereitete es ihr keine Schwierigkeiten, hineinzukommen, doch sie war vorsichtig. In diesem Zimmer schlief Enos stumme Dienerin Lara. Leandra wusste nicht, ob es nötig war, leise zu sein, denn diese schnarchte laut und sie fragte sich, wie Enos jemals Schlaf fand. Sie schlich zur Tür und öffnete sie. Dunkel lag der Raum vor ihr, aber das hatte nichts zu bedeuten. Ein Blinder brauchte kein Licht und der Seher war oft in der Nacht wach. Vielleicht hatte sie Glück und störte ihn nicht.
„Enos“, flüsterte Leandra, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Warte, ich zünde die Kerze an.“
Die Stimme klang hellwach und wenig später erhellte Licht das Gemach. Taru, Enos‘ Papagei, gab ein unzufriedenes Geräusch von sich, bevor er den Kopf unter seinem Flügel steckte. Der Seher saß am Tisch, auf dem neben Kerze und Karaffe auch zwei unbenutzte Gläser standen.
„Hast du auf mich gewartet?“, fragte die Prinzessin.
„Ja, möchtest du Wasser oder Saft?“
„Saft.“ Leandra setzte sich und beobachtete, wie Enos, ohne etwas zu verschütten, das Glas füllte und zu ihr hinüber schob.
„Wie geht es dir, Leandra?“
Sie trank einen kleinen Schluck.
„Ich habe in der letzten Nacht einen eigenartigen Traum gehabt.“
Der Seher nickte.
„Der ganze Tempel ist vom kriegerischen Wesen der Göttin durchdrungen. Erinnerst du dich an den Traum?“
„Nur verschwommen. Mit den anderen knie ich vor Isens Statue. Plötzlich öffnen sich die Türen und ein Schwarm Krähen fliegt herein. Es sind so viele, dass alles um mich herum schwarz ist. Dann verschwinden die Krähen und ich sehe, dass alle Amazonen tot am Boden liegen.“ Leandra biss sich auf die Unterlippe. „Enos, ich glaube, ich werde versagen. Selbst in einem Kampf werde ich keine Menschen töten können.“
Unglücklich sah die Amazonenprinzessin Enos an, doch er lächelte.
„Die Göttin Endora hat dich erschaffen. Es ist der Fehler der Menschen, wenn sie nicht die Bestimmung ihrer Kinder erkennen. Deine Mutter ist eine Kriegerin, du nicht.“
Der letzte Satz fuhr wie ein Dolchstoß in Leandras Herz und sie wich zurück.
„Hast du das in der Zukunft gesehen?“
„Hör gut zu, denn ich spüre, dass der Tag meines Todes nicht mehr fern ist. Ja, ich fühle, wie er sich nähert.“
Betroffen rückte die junge Frau wieder näher, ergriff seine Hand und schaute ihm ins Gesicht. Sie liebte die Falten um die trüben Augen, das silberne Haar und den langen Bart. Es konnte nicht sein, dass dieser freundliche Mann bald sterben sollte.
„Wenn ich nicht mehr da bin, wird es keinen geben, der dich bestärkt, dein Schicksal zu suchen.“
„Bist du dir sicher, dass du-?“
„Ja.“
„Wann?“, fragte Leandra leise.
„Ich kenne den Tag, aber ich werde ihn dir nicht sagen.“
„Wenn du weißt, an welcher Krankheit du erkranken wirst, können wir nach einem Heiler schicken!“
„Ich werde nicht eines natürlichen Todes sterben.“
„Was?“ Sie konnte sich nicht vorstellen, wer dem Seher Böses wollte. „Meine Mutter wird dir Wachen zur Verfügung stellen.“
„Ich kann dem Tod nicht entfliehen. Leandra, du weißt, dass ich keine eigenen Kinder habe und du bist wie eine Tochter für mich.“
Seine Worte verwirrten sie. Sie erinnerte sich, dass Enos ihr vor vielen Jahren übers Haar gestrichen und sie kleine Prinzessin genannt hatte. Als Königin Neria davon erfuhr, hatte sie den Seher auspeitschen lassen, dennoch konnte sie nicht verhindern, dass sich Enos und Leandra näherkamen.
„Was soll ich tun?“
„Versuch nicht mehr, etwas zu sein, das du nicht bist. Geh zu deiner Mutter und spreche mit ihr.“
Leandra schwieg lange und auch Enos sagte nichts, weil sie die Entscheidung alleine fällen musste. Nur das Blut eines Feindes würde sie zur Amazone machen. Die Prinzessin stellte sich vor, wie es ihre Hände rot färbte, und ihr wurde übel. Nicht nur Angst fühlte sie, sondern das Wissen, dass die Tat falsch wäre. Ich werde es nicht tun, auch wenn die anderen Amazonen mich verspotten, selbst wenn meine Mutter … Nein, nicht einmal in Gedanken konnte Leandra den Satz beenden. Eine verbannte Amazone musste Tehuna verlassen und durfte nie wieder zurückkehren, während man einer Verstoßenen sogar eine Jägerin hinterherschickte.
„Enos, hast du nicht den Wunsch-“
Er lächelte.
„Ich werde nie wieder durch die Wälder meiner Heimat gehen, doch sie sind in meinem Herzen.“
So will ich es auch halten, wenn es dazukommt, dachte Leandra und erhob sich.
„Du hast Recht, Enos.“
„Nein, es geht darum, was du willst.“
Sie nickte.
„Viel Glück“, sagte Enos.
„Danke, das werde ich gebrauchen können.“
Leandra verließ den Seher und ging den Gang entlang, der zu den Gemächern ihrer Mutter führte. An der Tür wachte Atima.
„Prinzessin Leandra?“, fragte die blonde Amazone verwundert. „Warum seid Ihr hier?“
„Ich möchte mit meiner Mutter sprechen.“
„Es ist mitten in der Nacht, Prinzessin.“
„Ich weiß.“
Die Amazone sah ihr in die Augen.
„Gut, wahrscheinlich wäre Königin Neria wütender, wenn sie erst morgen erfährt, dass Ihr den Tempel verlassen habt. Ich werde sie wecken. Bitte wartet in ihrem Arbeitszimmer auf sie.“
Dankbar nickte Leandra und nahm eine Fackel herunter, um sie im Arbeitszimmer aufzuhängen, das nur zwei Räume vom Schlafgemach entfernt war. Leandra rechnete damit, dass ihre Mutter gleich hereinstürmte, aber es vergingen Minuten, ohne das etwas geschah. Ungeduldig starrte sie auf die Tür und endlich wurde sie aufgestoßen. Die Königin trat ein und Licht schimmerte auf ihrer leichten Rüstung. Sie ist durch und durch Amazone, dachte Leandra.
„Es ist also kein Traum“, sagte Neria. „Leandra, ich hoffe, du hast einen guten Grund für dieses Verhalten.“
Die junge Frau fühlte, wie der Mut sie verließ, doch plötzlich hatte Leandra das Gefühl, die Stimme des Sehers hinter sich sagen zu hören: „Die Götter bestimmen das Schicksal der Menschen und es ist die Pflicht eines jeden, sein eigenes zu finden.“
„Leandra“, Neria klang ungeduldig, „ich warte auf eine Erklärung.“
Schau sie an, dachte Leandra und lenkte ihren Blick von der glitzernden Rüstung zu den grünen Augen ihrer Mutter. Augen wie die der Göttin Isen – stolz und befehlend, manchmal gnadenlos.
„Ich will keine Kriegerin sein.“
Die Pupillen weiteten sich, dann begannen sie, zornig zu funkeln.
„Was hast du gerade gesagt?“
„Ich will keine Kriegerin sein“, wiederholte Leandra.
Königin Nerias Augen wurden ganz schmal.
„Ich werde vergessen, was du gesagt hast, und du wirst zum Tempel gehen und die Hohepriesterin um eine Strafe für deinen Regelbruch bitten. Auf der Stelle!“
Einen Moment wollte sie gehorchen, dann fragte Leandra sich, wie ihre Mutter die Worte einfach ignorieren konnte. Zählten ihre Wünsche nicht?
„Nein.“
„Leandra, wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen? Erfülle deine Pflicht.“
„Nicht jedes Mädchen, das in unserem Reich geboren ist, hat die Fähigkeiten zur Kriegerin, und es wird von allen akzeptiert. Warum willst du aus mir eine machen?“
Die Königin gab einen wilden Schrei von sich.
„Warum? Warum willst du wissen? Du stammst von der großen Khalida ab und alle deine Ahninnen sind Kriegerinnen gewesen. Und bei Isen, es ist nicht so, dass du nicht die Fähigkeiten dazu hättest. Du bist schnell, kannst gut reiten, und ich kenne keine Amazone, die so gut Bogenschießen kann.“ Neria holte tief Luft. „Nun begreife ich, dass ich zu nachsichtig war. Ich werde dir zeigen, dass du die Erbin des Thrones der Amazonen bist, und du wirst es niemals mehr vergessen. Wie guter Stahl werde ich dich im Feuer härten.“
Bei den Worten lief Leandra ein Schauer über den Rücken.
„Was meinst du damit?“, fragte sie.
„Hast du Angst, meine Tochter? Ich werde deine Flausen nicht länger dulden.“
„Das sind keine Flausen.“
„Du wirst sehen, wie ernst es mir ist. Wache!“
Atima trat ein.
„Eure Hoheit?“
„Bring einen der Gefangenen in den Thronsaal und komme mit einer weiteren Wache.“
„Wie Ihr wünscht“, sagte Atima und ging.
„Was hast du vor, Mutter?“
„Das wirst du sehen.“
Sie packte Leandra am Arm und zerrte sie durch die Gänge. In diesem Moment erinnerte sich Leandra, dass die Göttin Isen keine Kinder hatte und jede Beleidigung streng bestrafte. Sie erreichten den Thronsaal und Neria gab ihrer Tochter einen so harten Stoß, dass sie fast gefallen wäre. Was hatte sich ihre Mutter ausgedacht? Noch nie hatte Leandra sie so wütend erlebt.
Die Wachen brachten einen Mann in den Raum, der anscheinend ein Erbe der Vohraner war. Sein Körperbau war kräftig und sein Blick irrte hin und her.
„Was soll das? Warum weckt ihr mich mitten in der Nacht?“
„Ich habe dir einen Vorschlag zu machen.“
Misstrauisch sah er die Königin an.
„Einen Vorschlag?“
„Ich denke, er wird dich sehr interessieren.“
Leandra wagte nicht, einen Ton von sich zu geben. Ihr Herz raste.
„Wachen, eure Schwerter.“ Die beiden Amazonen übergaben der Königin die Waffen. „Es ist ganz einfach, du wirst gegen meine Tochter auf Leben und Tod kämpfen.“
Leandra keuchte entsetzt. Oh, wohin hat mich dein Rat geführt, Enos? Nun musste sie sich der Situation stellen, die sie am meisten fürchtete. Der Mann musterte sie und fuhr sich nervös über die Unterlippe.
„Was ist, wenn ich sie töte?“
Leandra sah zu ihrer Mutter, die den Kopf wandte, um ihr in die Augen zu sehen.
„Ich hoffe es nicht, doch dann bist du frei.“
Kurz meinte Leandra ein trauriges Schimmern in den grünen Augen zu erkennen. Es verschwand so schnell, dass sie sich nicht sicher war, ob es vielleicht nur Einbildung war. In erster Linie war Neria Königin der Amazonen.
„Einverstanden“, sagte der Räuber und die Königin warf ihnen die Schwerter vor die Füße. Wie eine Schlange schoss der Mann vor und ergriff das Schwert, um sich auf Leandra zu stürzen, die im letzten Moment zur Seite sprang. Kurz sah sie auf das nun in die Ferne gerückte Schwert. Meine Mutter weiß, dass ich besser mit dem Stab kämpfen kann. Die Prinzessin wich ihrem Angreifer abermals aus und bemerkte, dass die Wachen von der Tür aus zusahen. Sie konnte den Kampf nicht vermeiden, indem sie floh.
„Stell dich ihm!“, rief ihre Mutter.
Aus dem Augenwinkel sah sie das Schwert. Behalte immer deinen Feind im Auge, lautete eine der ersten Lektionen, die eine Amazone lernte. Diesmal war Leandra nicht schnell genug und die Schwertspitze ritzte leicht ihren linken Unterarm.
Der Vohraner lachte.
„Rotes Blut.“
Die Tür schwang auf und im nächsten Augenblick hörte man das Sausen eines Wurfsterns. Der Mann schrie auf und griff sich an den Fuß, wo er getroffen wurde. Farina, dachte Leandra erleichtert, als sie die riesige, rothaarige Amazone erblickte. Trotz ihrer Größe war Farina schnell und von schlanker Gestalt. Man gewann den Eindruck, als hätten die Götter sich einfach vermessen. Farina sah ihre Mutter an.
„Was soll das?“
Keine andere Amazone wagte, so mit der Königin zu sprechen, doch da die beiden Blutschwestern waren, blieb Neria ruhig.
„Du hast meine Lehrstunde unterbrochen.“
„Wolltest du mich umbringen lassen?“, rief Leandra, die endlich den Schock überwand.
„Du hättest ihn besiegen können, wenn du es gewollt hättest.“
„Ich habe dir gesagt, was ich will!“ Nach diesen Worten stürmte Leandra aus dem Thronsaal. Keiner hielt sie auf, als sie die Gänge zu ihrem Zimmer lief. Die Prinzessin schmiss die Tür hinter sich zu und Tränen stiegen ihr in die Augen. Oh, Enos, manche Geschehnisse stehen fest und wir können nur den Zeitpunkt beeinflussen. Wie sollte ihre Mutter sie jemals verstehen, wenn sie ihr nicht einmal zuhörte? Enos hatte recht, sie war keine Amazone. Leandra wischte die Tränen fort. Ich kann nicht länger hierbleiben, dachte die Prinzessin. Sollte sie einfach ihre Sachen packen und davonlaufen? Das würde den Stolz ihre Mutter noch mehr verletzen. Sie blickte an sich herunter. Bestimmt wollte Königin Neria sie noch einmal sehen und ihre Kleidung war feucht vom Schwimmen durch den Kanal, also zog Leandra sich um.
„Prinzessin“, ertönte eine Stimme von der anderen Seite der Tür und Leandra zuckte zusammen. Sie gehörte Akrissa, der zweitmächtigsten Frau im Reich. Akrissa verachtete Leandra und würde versuchen, den Rest ihrer Selbstsicherheit zu zerstören. Warum hatte ihre Mutter nicht Farina geschickt?
„Prinzessin Leandra, öffnet die Tür.“
Sie wird auf jeden Fall hereinkommen, dachte Leandra und befolgte die Aufforderung. Anstatt einzutreten, blieb Akrissa im Türrahmen stehen. Im Gegensatz zu Neria war sie nicht schön. Eine Hakennase dominierte ihr Gesicht und erinnerte Leandra an einen hungrigen Geier und in ihren grauen Augen war nichts Warmes.
„Kommt mit.“
Ohne ein weiteres Wort folgte sie Akrissa. Die Amazone führte sie nicht wie erwartet zu ihrer Mutter, sondern in den Palasthof, wo ein gesatteltes Pferd stand. Da Leandra jedes Pferd im Stall kannte, sah sie, dass es Utan war. Auf dem falbfarbenen Wallach hatte sie reiten gelernt. Seit die Prinzessin Balima besaß, ritt sie ihn nur noch selten. Die Satteltaschen waren gefüllt und über den Knauf lag ein dunkelgrauer Mantel.
„Was hat das zu bedeuten?“
„Eure Mutter hat Euch verstoßen.“
„Nein, das würde-“ Die Prinzessin hielt inne. Einem Befehl der Königin nicht nachzukommen, war Verrat. Sie hatte sich geweigert, gegen den Vohraner zu kämpfen. Und hatte ihre Mutter ihm nicht erlaubt, sie zu töten? Leandra unterdrückte ein Zittern.
Nun lächelte Akrissa und die kalten, grauen Augen spiegelten Triumph.
„Ja, unsere Königin verliert ihr Gesicht, wenn sie dein Verhalten länger duldet. Du bist ein Makel auf der Amazonenehre.“
Leandra war es gleich, dass sie ihren Titel verlor, aber sie wollte nicht so gehen. Sie wandte den Kopf und blickte zum Flügel, in dem ihre Mutter lebte.
„Ich möchte mich von ihr verabschieden.“
„Verlass uns wenigstens aufrecht wie eine Amazone“, zischte Akrissa und Leandra zuckte zusammen. Dann griff sie nach Utans Zügeln und schwang sich in den Sattel.
„Reite, von nun an sind wir nicht mehr dein Volk. Wenn du deiner Jägerin entkommst, kannst du vielleicht ein friedliches Leben führen. Das ist doch, was du wolltest.“
Nein, dachte Leandra, aber das spielt keine Rolle mehr. Sie drückte die Beine an den Pferdeleib und galoppierte los.

Zufrieden beobachtete Akrissa, wie Leandra durch die Eingangspforte des Palastes verschwand. Nie wieder käme sie zurück. Wer hätte gedacht, dass es so leicht sein würde, Nerias Tochter loszuwerden? Akrissa unterdrückte ein Lachen. Jetzt war sie ihrem Ziel nahe und die verschlagende Amazone setzte eine traurige Miene auf, als sie in den Palast zurückkehrte.
Leise trat Akrissa in das Arbeitszimmer der Königin. Vor kurzer Zeit fand hier ein heftiger Streit statt, nun herrschte völlige Stille. Mit gesenktem Kopf stand Atima neben der Tür und Farina hielt Neria in den Armen. Ein Augenblick wie geschaffen für ein Gemälde, dachte Akrissa. Es sollte den Titel tragen: Trauer um eine tote Königin.
Wie erwartet hatte Königin Neria Farina in ihrem letzten Atemzug zu ihrer Nachfolgerin ernannt, aber Akrissa glaubte, dass die rothaarige Amazone einen anderen Weg beschreiten würde, wenn sie den Schock überwand.
„Farina“, sagte Akrissa leise und Tehunas beste Kriegerin hob den Kopf. In ihren dunklen Augen lagen tiefer Schmerz und Unglauben.
„Wie ist es möglich, dass Neria tot ist? Sie hat sich sehr aufgeregt, aber das Herz einer Frau in ihrem Alter kann doch nicht einfach aufhören zu schlagen.“
„Sorgen und Scham zehrten schon lange an ihrer Lebenskraft und heute hat Leandra ihr das Herz gebrochen.“
„Ich habe immer geglaubt, sie würde eine Amazone werden wollen.“ Farina schaute sich suchend um, riss das Schwert aus der Scheide und schrie: „Wo ist diese Lügnerin?“
„Ich habe sie verstoßen.“
„Verstoßen? Dazu hattest du kein Recht!“
„Stimmt, aber ihre eigene Tochter hat unserer Königin schon Schande bereitet, soll sich auch noch ihre Blutschwester entehren? Bestimmt hättest du Leandra in Zorn getötet.“
Farina blickte auf das Schwert in ihrer Hand und Akrissa sprach weiter: „Wir waren nie Freunde, doch ich weiß, was du empfindest.“
„Du redest von deiner Schwester?“
Akrissa versuchte die Erinnerungen an Nalia zu unterdrücken, die vor zwei Jahren in ihren Armen gestorben war. Sie wurde bei einem Kampf gegen die Erben der Vohraner getötet – von einem verirrten Pfeil einer anderen Amazone. Akrissa hatte die Kontrolle über sich verloren und die Schuldige erschlagen. Ein Verstoß gegen die Ehre, der sie einen Teil ihres Fürstentums und vier Jahre in Verbannung gekostet hatte. Hätte diese Amazone Verwandte gehabt, wäre sie vielleicht für immer verbannt worden.
„Du brauchst nicht zu antworten, Akrissa. Das war eine umsichtige Entscheidung. Wahrscheinlich hätte ich meine Gefühle wirklich nicht im Griff gehabt.“
„Was wirst du jetzt tun? Willst du sie selbst verfolgen?“
Farina nahm die Hand der Königin, um sie zu küssen. Dann erhob sich die Amazone und ihre Augen glitzerten kalt. Akrissa überlief ein Schauer.
„Ich werde die Verfolgung aufnehmen und dich als Königin vorschlagen.“
Akrissa musste ein Grinsen unterdrücken.
„Bei Sonnenaufgang werden wir mit der Hohepriesterin sprechen.“

 

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